Utopie und Haifisch
Drei Figuren, dreimal große weite Welt – in winzige Guckkastenbühnenboxen gezwängt. Die karrieresüchtige, aber verunsicherte Berufsanfängerin Moana betreut als Unternehmensberaterin ein Mikrochip-Unternehmen. „Das ist doch kein Beruf – Klugscheißen!“, sagt Mutter Christiane dazu. Christiane ist Nachrichtensprecherin mit etwas brüchig gewordenem Weltverbesserungs-Anspruch. „Das ist doch kein Beruf, Hauptsätze vorlesen“, findet Tochter Moana. Boris ist Steward und fliegt die spießige Umwelt in alle fünf Kontinente. Ist das ein Beruf, mit stetem sozialem Lächeln die Schikanen der Fluggäste erdulden, den Dompteur für die heimlich auf dem Klo rauchenden Fluggäste spielen?
Das also ist das Setting des jüngsten Stücks der hochgelobten und schon mit diversen Preisen ausgezeichneten Jung-Dramatikerin Laura Naumann. Die Ausstattung der drei kleinen Boxen, den Zimmern in der gemeinsamen Wohnung, verweist auf die berufliche Tätigkeit der drei Figuren: links dekorieren Kalender und Terminplaner den Raum von Moana (über einer das Zimmer dominierenden Badewanne, in der Sarah Grunert bescheuerterweise in voller Büromontur trockenbadet); Weltkarte und Stewardessen-Trolley finden sich in der mittleren Box, die der fliegende Boris bewohnt. Rechts hat Ausstatter Udo Herbster für Christiane eine Art Fernsehstudio-Theke aus Sektkisten gebastelt, während an den Wänden Familienbilder hängen, auf denen das Gesicht von Christianes durchgebranntem Ex-Mann ausradiert ist. Im Theater Unten, im Kellergeschoss des Schauspielhauses Bochum, befindet sich also kein gemütlicher freizeitorientierter Swimmingpool mehr, sondern das Haifischbecken einer fremden, feindlichen Welt, in der längst alle Utopien und Sehnsüchte zugrunde gegangen sind. Moana, ungefähr so alt wie ihre Schöpferin Laura Naumann, stellt sich zudem dem Haifischbecken der Unternehmensberater, die bekanntlich besonders scharfe Zähne haben. Ihr fühlt sich die Autorin vermutlich besonders nahe, ist sie doch in einer vergleichbaren Situation: Raus mit den neuen Stücken, rein in die Fänge der Zähne fletschenden Kritikerzunft.
Die allerdings ist mit Frau Naumann bislang sehr wohlwollend umgesprungen – einschließlich der Aufnahme des neuen Stücks. So bleibt die unangenehme Haifisch-Rolle für den Unterzeichner: Das Stück hat fraglos eine gewisse Relevanz, insbesondere für junge Berufsanfänger, aber es ist furchtbar redselig. Dem könnte eine einfallsreiche, spritzige Regie sicher abhelfen – aber Malte C. Lachmann inszeniert vollkommen uninspiriert: nah’ am Text, ohne ironische Überhöhungen, weitgehend ohne Witz. Sarah Grunert als Moana und Nicola Thomas als Christiane versuchen, durch schnell gesprochene Dialoge dem Stück Tempo zu verleihen, doch vergebens: Der Text wirkt papieren, die Dialoge gestelzt, und Naumanns Versuch, der Sprache etwas Kunstvolles, Musikalisches, Rhythmisches zu verleihen, geht ins Leere, weil die realistische Spielweise der drei Hauptdarsteller nicht zu der häufig eingestreuten Schriftsprache der Naumannschen Prosa passt. Allzu oft wirkt – zumindest im ersten Teil des Abends – das, was humorvoll sein sollte, schlicht unbeholfen. Und die Gesellschaftskritik, die Naumann in diesem Stück äußert – nun ja, sie wirkt eher banal, vordergründig und einfallslos: Karriere-Girl Moana lässt sich auf eigene Verantwortung vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen, weil sie dort weder Handy-Empfang noch Internet-Zugang hat. Was für ein kreativer Gedanke…
Vierzig Minuten lang geht das so – dann passiert endlich etwas Unerwartetes: Christiane hat die Nase voll davon, stets Nachrichten von der Unvollkommenheit der Welt vorzutragen, ohne dass etwas gegen diese Unvollkommenheit unternommen wird. Sie ruft in der Live-Sendung zu „Massensuizid“ auf. Oder nur dazu, aufzuhören? Wie im richtigen Leben ist die Botschaft, die beim Empfänger ankommt, nicht unbedingt die gleiche, die der Sender abgeschickt hat. Christiane jedenfalls ist ihren Job los; zu Hause säuft sie den Rotwein aus der Flasche und tanzt mit sich selber – zu ausgesprochen cooler Musik. Gleichzeitig mit Mutters Ausstieg fliegt Moana auf die Schnauze. Nicht im Job, noch nicht im Leben, sondern ganz real und doch unter höchst mysteriösen Umständen auf der Straße, wo sie fast von einem Auto angefahren wird. Sie bricht sich beide Arme, aber es hätte schlimmer kommen können: ohne Schutzengel. Langsam fängt die Sache an, uns zu interessieren. Es sind ja auch erst 45 Minuten um, als es klingelt.
Spätestens mit diesem Klingeln sollten wir wieder wach werden. Denn es taucht dramatis persona Nummer 4 auf: Torsten Flassig alias Nikita. Der Junge ist der Hammer – aber vielleicht ist er gar kein Junge. Nikita kann Mann oder Frau sein, und bis zum Schluss verweigert er/sie die Auskunft darüber, wer oder was er ist. Nikita ist alles – oder nichts. Ein Rätsel – oder eine Fata Morgana, die scheinbar die Wünsche und Sehnsüchte der Familienmitglieder erfüllt. Ein Engel – zumindest der Schutzengel von Moana, denn Nikita ist der Zufalls-Passant, der Moana vor dem herannahenden Auto gerettet hat. Kaum hat Engelchen geklingelt, zieht es gleich ein ins Haus der drei Unglücklichen und wird zum Heinzelmännchen, das die Bedürfnisse der anderen erfüllt. Eine überirdische Figur, die versucht, die anderen wieder zu erden: indem sie ihnen das Glück aufzeigt, in dem sie leben, aber das sie nicht mehr empfinden können. Nikita ist weich und einfühlsam und zieht die Liebe aller Hausbewohner auf sich. Und ist nach ein paar Wochen wieder weg, so umstandslos wie er/sie gekommen ist. Die alten Kräche brechen wieder aus, die alte Unzufriedenheit, die Moana in einem langen Monolog auf den Punkt bringt: „Wenn die Welt zugrunde geht, ist es doch gut. Wohin hat sie uns denn bisher gebracht?“
Es ist dieser Nihilismus, der einem utopischen Lebensentwurf Nikitas entgegensteht. Nikita, der „sich nicht beziehen“ will, der sich auf keine Rolle festlegen lässt und unsere pessimistischen Sichtweisen in Frage stellt. Wie Torsten Flassig das spielt, ist hinreißend – diese schwebende Leichtigkeit, das Rätselhafte und zugleich Engelhafte dieser Figur – da wächst ein großes Nachwuchs-Talent am Schauspielhaus Bochum heran. Flassig entschädigt uns für unser anfängliches Leiden an einem Stück, aus dem man fraglos mehr herausholen könnte als es dem jungen Regisseur der Bochumer Uraufführung gelungen ist.