Kassandra und der Mielke von Troja
Christa Wolf. Die große Dame der DDR-Literatur, die nach der Wende zugab, zwischen 1959 und 1962 (!) als IM für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet zu haben. Massiv geschadet hat sie wohl niemandem; ihre ausgeprägte Individualität ließ sich nicht auf Partei-Linie festlegen, so dass sie später selbst ausgiebig beschattet wurde. Wer glaubt, sie wegen ihrer vorübergehenden Spitzel-Tätigkeit moralisch verurteilen zu müssen, der lese ihre im Jahre 1983 erschienene Erzählung Kassandra.
Kassandra. Die Seherin, der niemand glaubte. Von Agamemnon am Ende des Trojanischen Krieges nach Mykene verschleppt und dort wie Agamemnon selbst von dessen Gattin Klytämnestra ermordet. Eine merkwürdige Person, wenn man Homer oder Aischylos liest. Ziemlich durchgeknallt, offenbar dem Wahnsinn verfallen. Die Frau, geben wir es zu, weckt bei den meisten von uns keine positiven Gefühle. Vielleicht sollten wir mal wieder Christa Wolf lesen.
Bettina Lieder. Die Dortmunder Luise in Kabale und Liebe“, die Helene in Rukov/Vinterbergs Fest, an dessen Ende sie den fatalen Brief der toten Schwester verliest. Eine der vielen guten jungen Schauspielerinnen in NRW. Sie spielt ihre erste Solo-Rolle. Sie werde das ganz hervorragend machen, raunte man schon vor der Premiere im Dortmunder Schauspiel. Wer immer noch glaubt, dass Bettina Lieder „eine der vielen“ ist, sollte sie als Christa Wolfs Kassandra sehen.
Lena Biresch. Wer merkt sich schon die Namen der Regie-Assistentinnen? Als solche ist sie seit ein paar Jahren am Schauspiel Dortmund tätig. Auch ein paar Stücke hat sie schon geschrieben. Und selbst inszeniert, vorwiegend in der Freien Szene. Sie ist die Dompteuse, die in ihrer ersten Regiearbeit am Schauspiel Dortmund die drei großen Frauen Christa Wolf, Kassandra von Troja und Bettina Lieder zusammengezwungen hat. In einem großen, dunkel leuchtenden Monolog, anstrengend und zutiefst beeindruckend.
In ihrem extrem reduzierten Bühnenbild hält Mareike Richter der Gesellschaft im Wortsinne den Spiegel vor: Fünfzehn Minuten lang sehen wir Kassandras Gesicht nur in diesem auch das Publikum reflektierenden Spiegel. Unmittelbar vor ihrer Hinrichtung durch Klytämnestra erzählt Kassandra die Geschichte vom Trojanischen Krieg und seiner Vorgeschichte, so wie sie sie erlebt hat: als Mitglied einer Großfamilie, die aufgrund widerstreitender Interessen vor einer Zerreißprobe steht. Als Seherin. Und vor allem als Frau: Feministische Themen klingen immer wieder an, doch 30 Jahre nach Erscheinen der Erzählung haben diese, Alice Schwarzer möge verzeihen, an Aktualität verloren. Nicht so die übrigen Themen: Wenn Kassandra vom Trojanischen Krieg erzählt, meint Christa Wolf auch aktuelle Politik. Auch im Jahr 2014 hat uns dieser Text eine Menge zu sagen. Vor allem aber schreiben wir das Jahr 1983; in Chiffren spricht die DDR-Autorin Christa Wolf über Friedenspolitik, über das Leben in Diktaturen, über den Freiheitswillen einer aufgeklärten Bevölkerung. Über hehre Ideen und Staatsziele, die irgendwann dem Willen zur Machterhaltung zum Opfer fallen. Über Phantomziele, an denen festgehalten wird, auch wenn jeder weiß, dass sie nicht mehr realistisch sind. Über die zunehmende Verknöcherung der politischen Nomenklatura: Trojas König Priamos, Kassandras Vater, wandelt sich mehr und mehr zu einem autokratischen, beratungsresistenten Staats-Funktionär. In solchen Systemen werden Feindbilder aufgebaut, um bröckelnde Macht zu zementieren: „Vom Feind war schon die Rede, ehe noch ein einziger Grieche ein Schiff betreten hatte“, spottet Kassandra bitter. Man wird „zum Feind allein, weil Argwohn herrscht.“ Mit solchen Feinden lassen sich auch Systemkritiker unter Druck setzen: „Wenn du dem Plan, … den schlimmsten Feind zu töten, nicht zustimmst - weißt du, wie ich das nenne? Feindbegünstigung!“, droht Priamos und setzt seine eigene Tochter im fensterlosen Verlies fest. Manchmal glauben wir Menschen aus dem DDR-Politbüro zu erkennen: „Von dieser fremden hohen wimmernden Stimme“ könnten die Älteren von uns, die den ein oder anderen Staatsratsvorsitzenden noch aus dem Fernsehen kennen, auch erzählen; Eumelos, der Chef der Palastwache, trägt unverkennbar Züge von Erich Mielke und treibt mit der Etablierung eines umfangreichen Sicherungs- und Spitzel-Systems die Umwandlung Trojas in einen totalitären Staat voran.
Kassandra sieht dies alles. Denn sie ist Seherin. Nicht jedoch im Sinne einer mythischen Wahrsagerin, sondern im Sinne einer weisen, hochbegabten jungen Frau, die über den Tellerrand schaut und der intellektuellen Entwicklung ihres Volkes um Lichtjahre voraus ist. Diese Kassandra ist nicht durchgeknallt: Sie ist verzweifelt einfach nur daran, dass Politik und Militär die komplexen Folgen ihres simplen Handelns nicht bedenken. Das führt im Extremfall zu epileptischen Anfällen - nicht als Ausdruck übernatürlicher Fähigkeiten, sondern als Folge psychischer Überlastung im pathologischen Sinne, wie Svenja Schmidt in ihrer bemerkenswerten Studienarbeit über Christa Wolfs Text bemerkt. Kassandra denkt in individual- und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen, während die tumben Soldatenkönige und griechisch-trojanischen Ritter von der traurigen Gestalt in eindimensionalem Denken und Realitätsverdrängung verharren. Hohl wirken deren Parolen: „Wer jetzt nicht zu uns hält, ist gegen uns…“. Kassandra aber kennt auch die psychologischen Auswirkungen solchen Kriegstaumels: „Ich fürchtete das Schlimmste: nicht weil ich den Plan der Griechen durchschaute, sondern weil ich den haltlosen Übermut der Troer sah.“
Kassandra hat den Mut, all dies anzusprechen. Sie hat den Mut, pazifistische Lösungen vorzuschlagen, das fest verankerte Patriarchat anzugreifen. So macht man sich zum Außenseiter - und landet in letzter Konsequenz im trojanischen Verlies oder in Hohenschönhausen. Und doch hat diese starke Frau die gleichen Bedürfnisse, die auch die starke Frau hatte, die ihr diese kraftvolle Stimme gab: Viel zu lange sei sie darauf aus gewesen, beides zu befriedigen: „meinen Hang zur Übereinstimmung mit den Herrschenden (und) … meine Gier nach Erkenntnis.“ Sagt Kassandra - und erklärt Christa Wolf in damals noch nicht dechiffrierbarer Sprache ihre frühen Stasi-Verirrungen. Wer kennt ihn nicht, diesen Hang zur Übereinstimmung mit den Herrschenden in der Politik, bei unserem Arbeitgeber, in der Hierarchie der Familie und des Freundeskreises? Wer ihm niemals nachgibt, ist meist ein höchst unangenehmer Zeitgenosse und macht sich zum Außenseiter. Fliegt im schlimmsten Falle raus wegen permanenter Obstruktion. Kassandras lassen sich nicht integrieren in einen Organismus; sie gehen uns auf die Nerven - und doch brauchen wir sie so nötig.
Und manchmal können wir sie bewundern. Wie zum Beispiel Bettina Lieder. Am benachbarten ROTTSTR5 Theater in Bochum ist ebenfalls eine beeindruckende Kassandra-Inszenierung zu sehen . Regisseurin Charlene Markow hat dort mehr inszenatorische Phantasie walten lassen, hat die Kassandra-Figur aufgespalten in eine politische Seherin und eine düster auf ihr Leben als Außenseiterin zurückblickende, mehr private Kassandra. Auch die um Hölderlin- und Mayröcker-Texte ergänzte, aber auf alle anderen Figuren der griechischen Mythologie verzichtende Textfassung ist in Bochum eigenständiger; wie ein Brennglas fokussiert sie zwei oder drei Themen der Erzählung, die heute noch von besonderer Relevanz sind. Lena Biresch hat sich in Dortmund darauf konzentriert, den Text sinnvoll einzukürzen, und dabei immer noch zur Verwirrung selbst des halbwegs antikensicheren Zuschauers reichlich viele Figuren belassen. Sie hat vor allem auf großes Schauspiel gesetzt. Mit klarer, gestochen scharfer Aussprache verleiht Bettina Lieder den differenziertesten Gefühlen Ausdruck: Verachtung, Wut, Verzweiflung, Zärtlichkeit, Hochmut, Liebe, Stolz, Träumerei. Sachlichkeit und Emotionalität halten sich die Waage, wobei eine der frühesten Selbstbeschreibungen Kassandras den Ton setzt: „Ich verlangte Unnahbarkeit“, sagt sie von sich. Meist werden Gefühle zurückgedrängt; auch mit Schmerz geht sie intellektuell um; Lieder gibt ihre Kassandra kraftvoll, überlegen, entschlossen. Aber sie kann auch ironisch, sie kann prollig, wenn sie „Achill das Vieh“ imitiert. Manchmal überwältigt sie der Schmerz: „Wehe, wehe, wehe“, die Klage geht einem durch Mark und Bein, wir bewundern die Kraft dieser Überfrau, die Wut dieser Megäre - und dann wird das Licht ein wenig gedimmt, und plötzlich steht da ein kleines, verletzliches Mädchen. Wenn sie von Aeneas spricht, ihrem Geliebten, dann werden ihre Züge weicher. Anchises, der Vater des Aeneas, ist eine Vertrauensperson der Kassandra, seine Gelassenheit, Ausgewogenheit und Toleranz teilen sich auch in Bettina Lieders Sprache mit. Ähnliches gilt für Arisbe, die das Matriarchat verkörpert und als Beraterin und Vorbild akzeptiert wird.
Bettina Lieder schafft es, diesen ungeheuer anstrengenden Text, dem 80 Minuten lang konzentriert zu folgen eine Herausforderung für den Zuschauer ist, so spannend und intensiv zu präsentieren, dass die Zeit wie im Fluge vergeht. Unser Gehirn wird zu Höchstleistungen angespornt; auch der psychologischen Entwicklung der Kassandra-Figur folgen wir eher intellektuell denn empathisch. Und dann trifft uns der Schlusssatz doch ins Herz: „Gegen eine Zeit, die Helden braucht, richten wir nichts aus.“ Plötzlich flimmern die Panzer an der ukrainischen Ostgrenze durch unser Hirn. Und dann, als sich im langen, langen Schlussapplaus die Zuschauer zu erheben beginnen zu rhythmischem Klatschen, als sich Bettina Lieders Gesichtszüge ganz langsam zu einem glücklichen Lächeln entspannen, da empfindet plötzlich auch der von Düsternis und intellektueller Brillanz erschlagene Rezensent auf einmal echtes Theaterglück: Er hat dem Durchbruch einer großen Schauspielerin beigewohnt.