Übrigens …

Glückliche Tage im Schauspielhaus Düsseldorf

Reden um des Lebens Willen

Die Hügel sind stählern. Fünf sind zu sehen, einer zur Hälfte mit blauer Erde überzogen.  In der Mitte, bis zur Taille eingepfercht: Winnie, schlank, im weißen Spitzenkleid, mit Federhütchen und Perlenkette. Neben ihr eine große schwarze Tasche, „der Sack“. Ihr gegenüber eine Kamera auf einem Stativ, die ihr Bild überlebensgroß an die dahinterstehende Leinwand wirft.  Eine surreale Szenerie, nicht von dieser Welt scheinend, grotesk. Warum sie in diesem Hügel feststeckt, weiß der Zuschauer nicht und er wird es im Laufe des Abends auch nicht erfahren. Es ist auch nicht wichtig.

Der französische Regisseur Stéphane Braunschweig vertraut Samuel Beckett und seinen präzisen und ausführlichen Regieanweisungen, er geht von der unergründlichen Tatsache aus, dass sie dort eingepfercht ist und bringt eine brillante, weil vollkommen auf den Text fokussierte Inszenierung auf die Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses.

 „Oh, dies ist ein glücklicher Tag, dies wird wieder ein glücklicher Tag gewesen sein! Trotz allem. Bislang.“ Winnie steckt in ihrem Hügel und bereitet sich auf ihren Tag vor, putzt sich die Zähne, schminkt sich, versucht durch ihre Lesebrille die Inschrift auf ihrer Zahnbürste zu entziffern und wiederholt ihren Mann zu wecken, der, sich kriechend fortbewegend, den Großteil seines Daseins hinter ihrem Ort der Gefangenschaft verbringt. Willie redet kaum, schläft dafür umso mehr und liest ab und zu Zeitung, immer dieselbe, jeden Tag.

Seine Frau hat sich mit ihrem grotesken Zustand akklimatisiert, es ist ihr gnadenloser Optimismus, ihre Weigerung, an der Situation zu verzweifeln, die sie dazu bringen, jeden neuen Tag mit einem breiten Lächeln zu empfangen, sich immer derselben Routine zu widmen.

Claudia Hübbecker ist eine Winnie, die in ihrem getakteten Tagesablauf das letzte rettende Ufer wittert, nur nicht klagen, immer beten, „immer adrett aussehen,Winnie“,sich nur selbst nicht aufgeben. Weil Willie kaum mir ihr redet, redet seine Frau. Ständig. Immer. Manchmal mit ihm, allerdings ohne große Hoffnung auf Resonanz, hauptsächlich mit sich selbst.

Sie redet, weil sie sich kaum noch bewegen kann. Sie bestätigt sich damit, dass sie noch existiert. Winnie redet, um zu überleben. Wird dem Zuschauer dieser Aspekt  in seiner ganzen Tragweite deutlich, ändert sich der Blick auf das Stück. Was anfangs wie eine schlicht groteske Persiflage auf eine langjährige, eingefahrene Ehe wirkt, ist bei genauerem Hinsehen eine dramatische Liebesgeschichte, eine Parabel auf unseren heutigen Umgang mit Zeit, eine philosophische Überlegung zu den Merkmalen und der Bedeutung unserer Existenz.

Claudia Hübbecker gelingt es, unterstützt durch die Kamera, die den Fokus sehr eindeutig auf ihre ihre Person legt, alle oben genannten Geschichten in ihrem Gesicht anklingen zu lassen; oft nur durch das Zucken eines Mundwinkels ihrer Winnie wird deutlich, dass Gesagtes und Gemeintes oft nicht deckungsgleich sind, wie verletzt und verzweifelt sie wirklich ist, als sie sich wieder einmal nach hinten rufend der Anwesenheit ihres Mannes versichern möchte, wieder einmal keine Antwort erhält und dann leiser zu sich selber sagt: „Nur zu wissen, dass Du mich theoretisch hören könntest, obwohl Du es praktisch nicht tust.“

Rainer Galke als ihr Ehemann hat kaum etwas zu sagen, er kämpft sich schleppend über die metallenen Stangen der Hügel vorwärts, nach oben zu Winnie, streckt die Hand nach ihr aus. Nach ihr oder nach der Pistole,die knapp vor ihr liegt? Er scheitert, fällt, versucht es erneut.

Mittlerweile ist seine Frau bis zum Hals im Inneren des Hügels verschwunden. Ihre Augen wandern stetig von links nach rechts, sich an das Wenige klammernd, was in ihrem Umkreis noch existiert, was sie wahrnehmen kann. Willie stemmt sich nach oben, damit Winnie ihn noch einmal sehen kann, immer und immer wieder versucht er es. Ein letzter Blickkontakt. Der Vorhang schließt sich.

Stéphane Braunschweig selbst beschreibt seinen surrealistischen Bühnenentwurf folgendermaßen: „Die Gesamtheit der Bühne erinnert ebenso an eine Theaterkulisse, unvollendet vielleicht im Zuge des Auf- oder Abbaus, wie auch ein synthetisches Bild in 3D (…) der verengte Ausschnitt täuscht über das Gesamtbild hinweg, verbirgt dessen Grausamkeit. Es ist das Leben durch eine blaue Brille gesehen(...)“. Braunschweig setzt Becketts Landschaftsbeschreibungen um, indem er sie in eine zur heutigen Zeit adäquate virtuell geprägte, unwirkliche Welt transportiert.

Zusammen mit seinen grandiosen Schauspielern gelingt dem französischen Regisseur ein dramatischer, streckenweise komischer und durchweg berührender Abend; ein Abend, der in seiner Bitterkeit noch lange nachhallt und den der Zuschauer im Hinterkopf mit nach Hause nimmt, um ihn noch einmal in Ruhe Revue passieren zu lassen.