Güllen liegt in Ostdeutschland
Kaum war Clara Zachanassian in Duisburg, ist der MSV gerettet. Die Stadt verzichtet auf 80 Prozent der Stadionmiete und übernimmt weitere Eigentumsanteile an der Arena, Ex-Präsident und Groß-Sponsor Walther Hellmich schießt mal wieder ein paar Millionen zu und die Gläubiger verzichten auf einen Großteil ihrer Forderungen. Was die Fans freut, ahnte der Theaterbesucher schon zehn Tage früher: Den MSV, den Landschaftspark Nord – all das habe sie schon aufgekauft, sagte Friedrich Dürrenmatts „alte Dame“ beim Gastspiel des Schauspiels Stuttgart. Der Bürgermeister hatte zuvor geklagt, man habe ja noch andere Probleme: „Ich sage nur: Konzertsaal.“ Passender wäre in Duisburg gewesen: Oper und Ballett. Claire Zachanassian, die reiche Milliardärin aus Dürrenmatts Besuch der alten Dame und in Duisburg nur Clara genannt, wird schon eine Lösung finden. Vorausgesetzt, die Bürger gehen auf ihre Bedingungen ein. Clara, die die Stadt einst mit Schimpf und Schande verlassen musste, kauft sich Rache: Reichtum für alle, Tod für ihren Ex-Liebhaber Alfred, der sie seinerzeit verraten hat.
Man würde auch dann an Duisburg denken, wenn die Stuttgarter uns nicht gar so deutlich mit der Nase drauf stoßen würden. Aber: Güllen liegt in Ossiland. Endlose Plattenbauten ziehen im Video vorbei; der Bürgermeister trägt beim Empfang der Milliardärin eine Russenmütze und eine riesige altmodische Ossi-Brille. „Zwei Tage nach deiner Flucht haben sie hier alles dicht gemacht“, sagt Ill zu Clara. Armin Petras, den neuen Intendanten des Schauspiels Stuttgart und Regisseur dieser Aufführung, lässt seine kuriose deutsch-deutsche Biografie nicht los: Im sauerländischen Meschede geboren, siedelte er im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern in die DDR um – 1969, zu einem Zeitpunkt, als die meisten Menschen im Westen die DDR als Unrechts-Regime betrachteten, aber ein paar 68er-Ideologen im sozialistischen Osten ein Heilsversprechen sahen. Schon vor der Wende ging Petras zurück in den Kapitalismus. Sein anderes Autoren-Ich Fritz Kater beschäftigt sich seitdem in zahlreichen Stücken mit der deutsch-deutschen Problematik. Auch Dürrenmatts Güllen wird kurzerhand nach Osten verpflanzt. Kurz nach der Wende reist die reiche Tante aus dem Westen an, hat längst alles aufgekauft und fordert: „Jetzt macht ihr neues Geschäft oder gar keins.“ Man denkt nicht mehr an Duisburg, sondern an die Treuhand.
Clara und Alfred denken natürlich auch an ihre eigene Vergangenheit. An ihre Liebe, an den Verrat, den Alfred übte, als er die schwangere Clara verleugnete: Das Kind – sein Kind – war, so suggerierte er, vielleicht vom Klassenfeind: So erledigt man unangenehme Unterhaltsansprüche. In kurzen Andeutungen wird auch an Schießbefehl und Stasi-Akte erinnert, die den Polizisten möglicherweise noch belasten könnten. Armin Petras‘ Inszenierung, eine mehr als vier Jahre alte Koproduktion des Staatsschauspiels Dresden und des Maxim-Gorki-Theaters Berlin, die jetzt in stark veränderter Besetzung in Stuttgart herauskam, firmiert zwar unter Dürrenmatt, doch es handelt sich um eine recht radikale Neubearbeitung. Das gilt auch für die Sprache, eine Umgangssprache von Heute bzw. aus der Nach-Wendezeit). Clara taucht nicht mit Eunuchen und Panther auf, sondern mit einem Leoparden, den man in der renaturierten Giftmülldeponie der Ex-DDR auch schon mal mit einem Reh verwechseln kann: „Die gibt’s jetzt wieder hier.“ Das Leopardenreh ist die rätselhafte Figur der ansonsten mit leicht entschlüsselbaren Metaphern arbeitenden Inszenierung: Die Tänzerin und Choreographin Berit Jentzsch ist stets präsent auf der großen Showtreppe des Bühnenbilds; manchmal kauert sie sich auch auf die Stuhllehnen im Parkett. Katzengleich und elegant tanzt sie die Stufen der Treppe hinauf und hinunter, ganz in Schwarz, doch sehr bald mit blutroten Fingern: die schöne, verführerische, gefährliche Fratze des Kapitalismus, anschmiegsam wie ein Reh, aber hungrig wie eine Raubkatze. Am Ende, als die Bürger von Güllen den Reichtum verteilt und den Tod Ills beschlossen haben, ist es der Leopard, der Ill totbeißt.
Bei Dürrenmatt finden Kapitalismuskritik und die heute wieder hochmoderne Anklage der skrupellosen Gier innerhalb eines einzigen politischen Systems statt. Petras geht ein hohes Risiko ein, wenn er das Stück in den ersten Jahren nach Ende der DDR ansiedelt. Wirtschaftlich funktionierte die Wende zwar wie eine feindliche Übernahme – die alte Dame und der Leopard vermögen das unschwer zu versinnbildlichen. Aber kritiklos kann man ja auch die Bürger von Güllen nicht stehen lassen, also die in den Westen strebenden, dann aber von ihm überrollten DDR-Bürger. Und siehe da: Auch das funktioniert in Petras‘ Bearbeitung problemlos. Stasi-Vergangenheit von Ill und Polizist, Anpassung und Duckmäusertum stehen für die Geschichte der Figuren: Ill sei einst Dandy, aber niemals im Widerstand gewesen, „sogar zu feige für einen richtigen Bierbauch“. Andreas Leupold gibt den Alfred Ill resigniert, mit nur schwach aufflackerndem Feuer bei der Erinnerung an seine Jugendliebe. Mut, einen echten Standpunkt hat er noch immer nicht. Er wolle sich sowieso scheiden lassen, behauptet er gegenüber Clara bei erster Gelegenheit: eine Behauptung, um ihr Wohlwollen zu erkaufen. Frau Ill wiederum steht in zweierlei Hinsicht exemplarisch für das Verhalten der ostdeutschen Bevölkerung unmittelbar nach der Wende: einerseits für eine etwas leichtsinnige Art des Konsumverhaltens, andererseits und vor allem aber für die Verunsicherung aufgrund des sich so rapide verändernden Mentalitäts-Umfelds: „Klar muss man das (Schuldenmachen) erst lernen, aber die Kinder, die können das schon.“ Einer der Wendegewinner wird der Bürgermeister sein, bei Wolfgang Michalek ein schmieriger Opportunist, der das Handwerk des Politikers im neuen System schon erlernt hat: Perfekt vermag er es, Fakten zu verdrehen, die er zuvor nicht einmal konkretisiert hat, und er hält Reden, die triefen vor Pathos und Leere.
So geht die zeitliche Verlagerung der Handlung ins Nachwende-Deutschland überzeugend auf. Petras‘ Inszenierung ist dabei entschieden komödiantisch, in einigen Szenen sogar reichlich klamaukig. Doch hat Petras auch den theoretischen Hintergrund des Stücks ernst genommen. Mehrfach nimmt er Dürrenmatts Hinweis auf die Verwandtschaft von Claire Zachanassian und Medea, der anderen großen Rächerin der Dramengeschichte, auf: Christian Schneeweiß als Journalist gibt im Interview mit Clara unter expliziter Bezugnahme auf die Kolcherin zu bedenken, man könne doch „nicht eine Ungerechtigkeit ungeschehen machen, indem man ihr eine andere entgegensetzt.“ Wer mag, kann darüber nachdenken, ob dieser Gedanke nicht auch dem einen oder anderen frustrierten DDR-Bürger nach der Wende gekommen sein mag. Euripides selbst kommt zu Wort – leicht verändert und durch die Sinnentstellung wie ein Schlag in die Magengrube: „Ungeheuer ist vieles, doch nichts ist ungeheurer als Armut.“ Chorisch wie im antiken Drama wird diese Passage gesprochen, ebenso Dürrenmatts Karikatur des in Güllen entstehenden neuen Großbürgertums: „Es steuert der Bursche den sportlichen Wagen.“ In der Stuttgarter Inszenierung werden diese Passagen zu einer großartigen musikalischen Partitur, die die Komödie zur Groteske überhöhen. Das Gestaltungsmittel des antiken Chores wird aufgegriffen, aber in seiner Bedeutung verändert: Anstatt das gesunde Volksempfinden und eine allgemeingültige Moral zu betonen, dient der Chor der Selbstvergewisserung eines von moralischen Grundsätzen abgerückten Volkes: Lag man zunächst noch im Streit um Claras erpresserisches Angebot, ist man nach dem einstimmigen Beschluss für Alfreds Tod wieder zusammengerückt - auf einem neuen moralischen Fundament, mit einem neuen Gott: dem Gott der Gier und des Mammons.
Auf der Videowand gehen die Festgäste ins Foyer, in dem Clara schon ihren Sekt trinkt. Der Polizist schickt alle nach Hause: die Zuschauer, den Inspizienten, die Garderobieren. Nichts soll den Eindruck von diesem Fest trüben. Auch nicht der tödliche Biss des Leoparden in Alfreds Hals.