Familientherapie mit Medeas Kindern
Bei Euripides, Grillparzer oder Hans Henny Jahnn sehen wir Medeas Kinder selten auf der Bühne. In Konstanze Lauterbachs aktueller Medea am Schauspiel Essen (nach Euripides) tauchen sie immerhin einmal ganz kurz auf; bei den meisten Aufführungen aber geht es ihnen allenfalls wie Naumanns Fritzchen am Schluss von Erich Kästners „Ballade vom Nachahmungstrieb“: Wenn die Rache der Kolcherin ausgeführt ist, baumeln sie im Winde. Doch sie merken nichts davon, denn sie sind tot.
In dem Jugendstück des schwedischen Autoren-Duos Per Lysander und Suzanne Osten sind Medeas Sprösslinge quicklebendig. Sie spielen die Hauptrolle im Stück und erzählen die Sage von der in die Brüche gehenden Familie des Argonauten-Helden Jason und der schönen Kolcherin Medea aus Kindersicht. In Schweden und im Ruhrpott weiß man: Gebt den Kindern das Kommando, und die Welt wird besser. Klein-Jason und Klein-Medea überleben; Papa wird mit wenig überzeugenden Tröstungen zu seiner neuen Flamme Glauke (in anderen Medea-Versionen: Kreusa) abgeschoben („wir besuchen dich auch“). Mamma Medea behält das Sorgerecht und besinnt sich auf ihre Sorgepflicht. Der zum Skeptizismus neigende Erwachsene bezweifelt, dass das nach allem, was vorgefallen ist, gut geht, aber die Kinder im Publikum sehen ein halbwegs versöhnliches Ende. Sie erleben, welche Schmerzen der Scheidungs-Krieg der Eltern auch für Kinder mit sich bringt, und sie erkennen: Ein (Beziehungs)-Ende mit Schrecken ist besser als ein Schrecken ohne Ende. Denn der Kindermord, Medeas Rache an Glauke und Jason, ist zwar die dichteste Szene in Lysanders und Ostens Stück, aber anders als bei Euripides & Co. handelt es sich nur um einen Alptraum der verunsicherten, verängstigten Kinder. Die Trennung von Jason und Medea, die erst möglich wird, als die Kinder die Initiative ergreifen, ist ein neuer Anfang, der Hoffnung gibt.
Regisseurin und Theaterleiterin Vera Gorschkowa vom Theater VERA aus Nischnij Nowgorod, das jetzt mit dem schwedischen Stück in Essen gastierte, berichtete im Gespräch mit theater:pur, dass die Inszenierung daheim in Russland häufig von Familien besucht wird, die sich in einem Trennungsprozess befinden; oft kämen die Eltern sogar ohne ihre Kinder zur Vorstellung. In gewisser Hinsicht nehme die Theaterarbeit bei Medeas Kinder sogar eine therapeutische Funktion wahr. So stark das Stück auch im Heute verankert wird, erscheint es tatsächlich weniger als realistisches Kinder-Drama denn als therapeutisches Märchen. Der Transfer in ihre heutige Lebenswelt gelingt aber auch jungen Zuschauern sehr leicht.
Das Theater VERA folgt der Handlung und dem Text des im Jahre 1975 für das Unga Klara Theater in Stockholm entwickelten Stücks sehr genau, erweitert es aber vereinzelt um Videoszenen und um eine permanente musikalische Untermalung. Die Nacherzählung der Argonauten-Sage wird durch eine abstrakte Version von Meeresrauschen bebildert, zum Traum der Kinder von ihrer Verstoßung und Ermordung sehen wir antike Kriegsszenen. Die Musik hat den Charakter einer Filmmusik, die wir in der Entstehungszeit des Stücks oder gar zehn bis zwanzig Jahre früher verorten würden - das stilistisch recht einheitliche, nahezu pausenlose Gedudel, stets unterstützend, niemals kontrapunktierend, wirkt für deutsche Theater-Ohren etwas unzeitgemäß. Aber die Musik passt zur insbesondere in den antikisierenden Passagen ein wenig folkloristischen Bildsprache: Gleich zu Beginn zum Beispiel tanzen die fünf Ensemble-Mitglieder in weißen Gewändern eine Art Volkstanz, der Assoziationen ans Rudern weckt: Mit verteilten Rollen wird in Kürzestfassung die Eroberung des Goldenen Vlieses durch die Argonauten rekapituliert. Hübsch choreografierte Kampf-Szenen wirken nicht bedrohlich, sondern kindgerecht und poetisch; pantomimisch wird Jasons und Medeas Liebesglück dargestellt. Kaum haben sie geheiratet, springen ihre Kinder Klein-Jason und Klein-Medea unter Medeas Rock hervor. Doch schon tauchen die ersten schwarz gekleideten Gestalten auf: Dämonen, die das Glück der jungen Familie bedrohen. Das antike Relief, das im Tanz auf die Bühne getragen wurde, teilt sich - auseinander gerissen, was zusammen gehört, rahmt nun ein in der Mitte geteilter Kopf zur Rechten und zur Linken das Podest ein, auf dem die Eltern oft agieren werden. Die sprechen häufig in den hohen, der Euripides-Version nahen Versen, während die Amme in heutiger Diktion mit Mutter und Freund telefoniert und Klein-Jason und Klein-Medea auch sprachlich ein höchst authentisches Geschwisterpaar im Vor- und Grundschulalter mimen.
Die Show wird vor allem von Alexandra Truschkina als Klein-Medea geschmissen. Dass das normalerweise in einem kleinen Zimmertheater spielende Team die Befürchtung hatte, den Anforderungen des großen Katernberger Kirchenraums nicht gewachsen zu sein, mag man nicht glauben, wenn man diese Schauspielerin sieht. Mit lauter Stimme und expressivem Spiel füllt sie temperamentvoll den Raum und wird zum Liebling des Publikums. Klein-Medea, das ältere der beiden Kinder, ist schon in Lysanders und Ostens Text die dominante Figur. Burschikos und naseweis, treibt sie den kleinen Jason von einer Kalamität in die nächste, um ihn im nächsten Moment wieder kindlich-fürsorglich aufzufangen. Als Klein-Jason und Klein-Medea ihren verborgenen Ängsten durch unschuldiges Spiel die Spitze zu nehmen versuchen und „Trennen“ spielen, wirkt Truschkina zunächst trotzig auflehnend. Aber noch wird die Nachahmung der Eltern zum ausgelassenen Spiel. Einen Spielzeug-Nachbau der Argo ziehen die beiden hinter sich her, und in diesem Boot sitzt eine wunderschöne schwarzhaarige Puppe, die sie Glauke nennen: Klein-Jason und Klein-Medea küssen sie und träumen von einem Land, in dem Platz für alle ist: für Papa und Mama, für die Kinder und für Glauke. Sensibel werden Ängste und Sehnsüchte dargestellt; Truschkina spielt einfühlsam und gleichzeitig vorlaut, ängstlich und gleichzeitig dominant. Ihre Klein-Medea verfügt über eine hohe Imaginationskraft sowie eine kindliche Art von Gewaltphantasien: Mord und Totschlag werden bei ihr zum Abenteuer, während Klein-Jason (Dmitrij Suchanow) Angst bekommt. Doch den bedrohlichen Szenen nehmen die russischen Schauspieler die Düsternis und Beklemmung, die den Leser des Texts erfasst: Die Tragik und der Schrecken werden zurückgenommen, so dass auch kleinere Kinder die Aufführung goutieren können. Selbst die erschreckendste Szene, der Traum vom Mord an Glauke und ihrem eigenen Tod, wird in einer poetischen Szene dargestellt: Ganz in rotes Licht und Tuch gehüllt, tanzt die Glauke-Puppe in den Tod und wird doch liebevoll umarmt.
Schön zeigt die Inszenierung auch die Umkehrung der Verhältnisse zwischen Klein-Medea und Klein-Jason auf: Als die Kinder (natürlich auf Initiative des Mädchens) fliehen wollen aus der Enge der Verhältnisse, bekommt Klein-Medea Angst vor der eigenen Courage, während Klein-Jason die Flucht als Abenteuer betrachtet. Hübsch wird in dieser Aufführung mit Themen wie Vertrauen und Verunsicherung, wie kindlichem Gespür und kindlicher Auflehnung gespielt, mit der Ohnmacht der Kinder und Macht des offenen Wortes. Denn am Ende sind es die Kinder, die die Situation auflösen. Sehr deutlich, sogar mit ein wenig Verachtung in der Stimme bedeutet Klein-Medea ihrem Vater Jason, dass er diese zerbrochene Familie nur noch retten kann, wenn er sie verlässt - und dass die Kinder ihn dennoch lieben. Konstantin Eremeev, der russische Jason, geht durch den Mittelgang der Kirche ab. Klein-Medea weint. Aber es gibt Hoffnung für die Familie.
Lesen Sie dazu das theater:pur-Interview mit Vera Gorschkowa unter theater:persönlich.