Übrigens …

Brain and Beauty im Köln, Schauspiel

Brustwarze am Rücken

Über den Daumen gepeilt 50 Figuren bevölkern stumm und starr in eingefrorener Bewegung den Bühnenraum der Halle Kalk. Schwer zu sagen, wie viele davon echte Schauspieler sind und wie viele leblose Schaufensterpuppen, täuschend echte Menschen-Nachbildungen, die den Geschöpfen des US-amerikanischen Hyperrealisten Duane Hanson nahe kommen. Kurzer Blickkontakt mit meiner jungen Sitznachbarin, die in perfekter Kombination von Brain and Beauty der Zielgruppe des heutigen Abends eher zu entsprechen scheint als der Schreiber dieser Zeilen: „Das ist ja schon mal ein schönes Bild da unten!“ - Kunststück, stammt das Bühnenbild doch von Katrin Brack, die in den Kritiker-Umfragen von Theater heute schon dreimal zur „Bühnenbildnerin des Jahres“ gewählt wurde.

Die Damen, Herren und zahlreichen Kinder da unten sind in ansprechende Kostüme gehüllt; manche haben einen ganz leichten Touch ins Überkandidelte. Irgendwie vermitteln sie Wohlfühl-Atmosphäre - mit einer ganz kleinen Prise Störgefühl. Wir werden das noch häufiger erleben an diesem Abend: diese schwebende Balance zwischen Authentizität und Künstlichkeit oder Distanz. Das „Stück“, dessen Uraufführung wir heute erleben, dreht sich um die beiden Arten von Schönheit: die körperliche Schönheit und diejenige, „die von innen kommt“, die Schönheit, die Menschen aufgrund von Warmherzigkeit und Intelligenz ausstrahlen. Es handelt sich um eine der für die neue Kölner Hausregisseurin Angela Richter typischen Collagen aus Interviews mit, wie Rimini Protokoll es ausdrücken würde, „Experten des Alltags“. Richter hat diesmal vor allem Gespräche mit Schönheits-Chirurgen geführt; bis nach Beverly Hills ist sie geflogen, um zum Beispiel den Hautarzt von Michael Jackson zu treffen. Wenn man sich an das gebleichte Zombie-Monster erinnert, das der King of Pop zuletzt darstellte, denkt man, dass man den längst in den Knast hätte werfen müssen. Und dann erfährt man, dass der geschätzte Beauty Farmer die männliche Pop-Diva auch schon mal bloß eingeschläfert und nach einigen Stunden Nichtstuns wieder aus der Narkose erweckt hat, um dem durchgeknallten Superstar die Erfüllung seines Wunsches nach erneuter Operation nur vorzugaukeln. Weitere Interview-Partner waren Ernährungswissenschaftler und Ethnologen, Patient(inn)en und lokale Kölner Ärzte, die über den Nutzen und die Grenzen plastischer Chirurgie berichteten. - Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Der Spiegel lügt nicht, so glauben wir zu wissen. Aber unser Gehirn belügt uns permanent. Mr. Jackson hatte nach seiner Fake-OP keine Beanstandungen. Und was er aus seinem Gesicht gemacht hatte, fand er vermutlich schön.

Die Geschichte von Michael Jackson ist eine, bei der man aufhorcht. Die Klatschnachrichten liest auch der Theaterkritiker gern. Die Geschichte interessiert, und man hat vor Augen, was Yuri Englert, der den Text des Jacksonian Cosmetic Surgeon spricht, meint, wenn er sagt: „Man muss wissen, wann man aufhören muss.“ Englert ist es auch, der die gruselige Geschichte von der Stripperin erzählt, die sich ein drittes Brust-Implantat einsetzen ließ, inklusive Brustwarze: hinten auf dem Rücken. So wurde sie zur einzigen Frau mit drei Brustwarzen - was tut man nicht alles für den Erfolg im Beruf… - Ein wenig beklemmend wird es, wenn Melanie Kretschmann als Patientin ganz gelassen von einer schief gelaufenen OP berichtet - halb wach erlebt sie das Hämmern und Feilen in ihrem Gesicht, die Mishaps der Chirurgen und ihre Versuche, wieder gerade zu rücken, was schief gewachsen und gelaufen ist.

Vierzig Minuten sind da vorüber von dem ca. 90minütigen Abend, und zum ersten Mal schüttelt’s uns ein wenig. Das brisante Thema von den Eingriffen in den menschlichen Körper plätschert über weite Strecken des Abends an uns vorüber - ohne Schrecken, ohne Zuspitzungen. Eben ohne Brisanz. Die Schauspieler machen ihre Sache nicht schlecht - insbesondere Yuri Englert spricht den weitgehend harmlosen Text über die eigentlich erschreckenden Vorgänge verträumt, mit weicher Stimme, aber stets unterschwelliger Ironie. Ihm kaum nach steht Malte Sundermann als zweiter exemplarischer Chirurg des Abends. Beide geben ihrem Spiel eine kaum merkliche Doppelbödigkeit, die faszinieren könnte - wenn denn das Stück gehaltvoller wäre. Julia Riedler ist die überzeugendste, weil unseren Klischeevorstellungen am nächsten kommende „Patientin“: ein bisschen naiv, ein bisschen eingeschnappt, ein bisschen lernresistent. Auch sie wandert schauspielerisch auf dem schmalen Grat zwischen Realismus und Distanz.

Aber die ganze Angelegenheit verfängt nicht. Bewusst hat Angela Richter darauf verzichtet, die Aussagen miteinander zu verzahnen und so schärfere Gegensätze zu kreieren; fahrlässig hat sie das Thema Brain“außer Acht gelassen. Und dass sie offenbar keine Aussagen über die desaströsen Folgen des Körperkults bekommen hat, mag an der Auswahl der Interviewpartner gelegen haben. Bulimie und Magersucht? Die 19 und 20 Jahre alten Kinder des Rezensenten könnten jede Menge Erfahrungen aus ihrem Freundeskreis zu diesem Thema beisteuern, an diesem Kölner Abend klingt es allenfalls einmal an, als die groß gewachsene Melanie Kretschmann vom komatösen Erlebnis ihrer Figur im Bochumer Bermuda3eck berichtet - ihrer Figur, die sich mit „41, 42 Kilo“ als viel zu fett empfindet. Keine Rede ist von den verunstalteten alten Schabracken, die jenseits der 70 unter den physischen Ungleichgewichten leiden, die frühere Schönheits-Operationen hinterlassen haben. Selten - und auch dann nur im plätschernden, harmlosen Parlando - hören wir von den psychischen Problemen, die nicht nur das Empfinden der Unvollkommenheit des eigenen Körpers, sondern auch das Übergriffige eines externen Eingriffs in die eigene Physis hinterlassen können. Ein spannendes Thema wird uninspiriert präsentiert, und aus der Philosophie der Regisseurin, dem Publikum selbst die Schlussfolgerungen aus dem vorgefundenen Material überlassen zu wollen, resultiert in diesem Falle ein eher langweiliger und wenig relevanter Abend.

Verhaltener Schlussapplaus, der vor allem den guten Schauspielern galt. Und noch einmal ein kurzer Blick zur jungen Sitznachbarin: Das Schönste, so stellten wir übereinstimmend fest, blieb das, was wir schon vor Beginn des Abends entdeckt hatten. Katrin Bracks coole Puppen - eingefrorene Schönheiten, ohne Brain. Dabei wusste Humphrey Bogart schon 1942: Wahre Schönheit kommt von innen. „Schau mir in die Augen, Kleines!“ Dann sieht man alles, was einen Menschen attraktiv macht: Brain, und Sense and Sensitivity.   

 

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