Übrigens …

Woyzeck im Köln, Theater im Bauturm

Woyzeck – rockig und in umgekehrter Reihenfolge

Der sehr früh verstorbene Georg Büchner (1813-1837) hinterließ sein großes Sozialdrama Woyzeck nur in Fragmenten; seine „Lose-Blatt-Sammlung“ zahlreicher Einzelszenen war zunächst verschollen und wurde erst nach 40 Jahren wiederentdeckt. 1913 erfolgte die Uraufführung in einer vom Regisseur Eugen Kilian erstellten einfühlsamen und heute üblichen Reihenfolge der Szenen. Sie ist auch Grundlage von Alban Bergs berühmter Oper (1925) und der Verfilmung der DEFA von 1947.

Nach der musikalischen Adaption von Robert Wilson mit Musik von Tom Waits (Berlin 2009) nun Jörg Fürst, Leiter des Kölner A.TONAL.THEATER und häufiger Regisseur im Hause, der versucht, das Leiden und die Verzweiflung des Titelhelden durch zwei Musiker quasi zu spiegeln, besser erlebbar zu machen. Mit den Kölner Lokalgrößen Peter Sarach, Szene-Musikstar der 90-er Jahre und bekennendem Drogenliebhaber, der auch ständig auf der Bühne qualmte, und der ehemaligen Straßenmusikerin Krazy gab es einen klanglich sehr spannenden Mix aus hartem Rock, eingängigen und schmeichelnden Gefühlsklängen und extra für das Stück geschriebenen Songs. Eigentlich schon ein Super-Konzert für sich, welches die Protagonisten gelegentlich ein wenig als Nebenfiguren erscheinen ließ. Sehr stark der Auftritt von Sarach als multilingualem Marktschreier, in dem er so ganz in seine frühere Szene schlüpfen konnte. Die Songs überwiegend in Englisch gesungen, leider auch nicht im Programm abgedruckt, so dass die Beziehung zur aktuellen Handlung nicht ganz einfach herzustellen war. Nun darf man davon ausgehen, dass diese den meisten Premierengästen bekannt war; dennoch wären weniger und manchmal leisere Musik und bessere Textverständlichkeit wünschenswert gewesen.

Auch in der Reihenfolge der Szenen, beginnend mit dem Mord Woyzecks an Marie, die ihm zuvor noch sexuell zu Willen sein musste, will Fürst das Stück zurück zu den Wurzeln führen. Original in der Reihenfolge sind lediglich die Doktorszenen, entfallen ist nur der Messerkauf beim Juden. Dazu viel grelle Beleuchtungseffekte, Video, Dunkelheit, Beklommenheit. Schon ein großes Fest für Augen und Ohren.

Fürst sieht in Woyzeck die Musik in vielen Szenen von Büchner mit angelegt, er versucht nach eigenem Bekunden mit dem Rock und den Musikern aus dem „originalen Untergrund-Leben“ die aktuelle Form des Volkstheaters zu finden. Und damit die sich gegenseitig verstärkenden Motive Woyzecks für die Tötung von Marie, seine Eifersucht, sein Delirium durch das Nahrungsexperiment (gegen Bezahlung hat er sich ausschließlich von Erbsen ernährt) und vor allem seine Auflehnung gegenüber den Standesunterschieden und gesellschaftlichen Verhältnissen als von allen gequälter und verhöhnter Mann „ganz unten“ eindringlich zu verdeutlichen. Was ihm zweifellos gelungen ist.

Lisa Bihl als einprägsame, sinnlich-erotische Marie, Philipp Sebastian als verführerischer Tambourmajor und Christoph Heming als menschenverachtender Hauptmann und zynischer Doktor fügten sich auch als aktive Musiker hervorragend in die Inszenierung ein.

Sehr eindringlich die Medizin-Test-Szene: Woyzeck rennt mit tausend Schläuchen, unter einer Art Jesus-Dornenkrone und mit Mundstück quasi als Laborratte wie auf einem Laufband auf der Stelle; Kompliment für die hervorragende Kondition von Gregor Henze, dem unumwundenen Star des Abends. Er war es auch, der das ausverkaufte Haus mit einer Glanzleistung entließ: der Mörder steht sprachlos an der Rampe, er zittert, versucht zu sprechen, deutet Bewegungen an, horcht, blickt wirr umher und in sich hinein, scheint nicht zu begreifen was passiert ist – ewige Minuten lang. Bis ihn der erst zögernd einsetzende, dann aber lange jubelnde Applaus erlöst.