Die Philosophie im Boudoir im Köln, Schauspiel

Volles Rohr

Manche Inszenierung des Schauspiels Köln ist in dieser Spielzeit vor allem an den theaterfeindlichen Räumlichkeiten in der neuen Ausweichspielstätte des Hauses gescheitert. Im riesigen „Depot 1“ dringen die Schauspieler akustisch nicht durch; optisch wirken sie oft verloren. Draußen vor der Tür aber bemüht sich das Schauspiel mit der Anlage des CARLsGARTEN um einen skurrilen, ironischen Kontrast zu der lieblosen, uncharmanten Umgebung. Stahlketten, Kabeltrommeln, Stahlkronen und Bäckerkisten werden zu biologischen Kompostbeeten und Rankhilfen; Besucher konnten selbstgezogenes Gemüse und Blumen anpflanzen und zum Wachsen und Gedeihen des seltsamen Gartens beitragen. Vor der Tür zum Foyer der riesigen Theaterhalle erhebt sich ein seltsamer Grüner Hügel; bei gutem Wetter rasten an seinen steilen Hängen die Theaterbesucher im Gras, und wenn man ihn über eine kleine Treppe erklimmt, steht man da oben wie am Kodak Picture Spot über dem Grand Canyon und sieht exakt dasselbe, was man schon von unten sah. Irgendwie bekloppt, irgendwie kind of magic.

Magisch wird es erst recht, wenn das Schlüsselpersonal den Theaterbesucher in das Innere des Grünen Hügels einlässt. Durch einen schmalen Gang betreten wir ein paar aneinander gereihte Übersee-Container. Dort, in der sogenannten „Grotte“, werden die „Werkstücke“ hergestellt: Regie-Assistent(inn)en erarbeiten erste eigene Inszenierungen, hier haben sie die Gelegenheit zum Experimentieren. Und hier, endlich, finden wir einen Theaterraum, der Nähe zulässt und Intensität. Genau das Richtige, um sich den Schrecken des Marquis de Sade auszusetzen. Die Regie-Assistentin Andrea Imler hat sich dessen Philosophie im Boudoir für ihre erste eigene Arbeit am Schauspiel Köln vorgeknöpft – einen seiner berühmteren Texte und einen, der auch knapp 220 Jahre nach Erscheinen noch provoziert.

Sie glauben, wir leben in einer permissiven, libertären Gesellschaft? Mit höhnischem Lachen würde Marquis de Sade diese Auffassung quittieren. In seinem Text geht es um … ja, sollen wir wirklich sagen, die Sexualerziehung? Es ist wohl eher die sexuelle Entgrenzung der 15jährigen Eugénie durch die extrem freigeistige Madame de Saint-Ange, die sich zu einer nach heutigen ebenso wie nach damaligen Moralvorstellungen fragwürdigen, aber die Lehren des extremistischen Aufklärers und Sexual-Fundamentalisten de Sade perfekt transportierenden Lehrerin entwickelt. Der jungen Eugénie werden alle Hemmungen ausgetrieben, alle noch so bizarren Formen sexueller Lust und Pein als anzustrebendes Mittel zur erfolgreichen Überwindung gesellschaftlicher Schranken und zur Gewinnung größtmöglicher Unabhängigkeit gepriesen. Wobei dies bei Eugénie auf fruchtbaren Boden fällt: Bald wird sie Madame de Saint-Ange rechts überholen und die … wie heißt der Autor und Philosoph noch – genau: sadistischen Spielchen zu deren Lasten auf die Spitze treiben.

In Imlers nur 50minütiger Inszenierung verfolgt man die rasante Entwicklung Eugénies von der sexuellen Initiation bis zur brutalen Sadistin mit Schaudern, aber nicht ohne Faszination. Aufreizend, das auf nur zwei Bankreihen ganz dicht am Geschehen platzierte Publikum offensiv anmachend, erscheint Eugénie. Unschuld resultiere letztlich nur aus Angst, erklärt Madame de Saint-Ange (und so weit mögen wir ihr ja noch gerne folgen), Anstand sei nur ein Überbleibsel aus dem Mittelalter und widerspreche der Natur. Und dann geht’s los: mit Oral- und Analverkehr, mit manchmal etwas albernen Wichs- und Fick-Spielchen usw.. Eugénie ist eine gelehrige Schülerin, ihre Lernfortschritte sind rasant: Schnell ist sie die weniger Skrupellose der beiden Frauen; sie entwickelt sich zum aggressiven Sex-Monster und unterzieht ihre Lehrerin einer fulminanten, blutrünstigen SM-Behandlung. Mit Todesurteilen: Zerstückeln, Hängen, bei lebendigem Leib in Brand setzen. Am Ende, als endgültige Abnabelung von der Lehrerin und Mutter, werden dieser die Geschlechtsteile zugenäht. „Und ich“, beschließt die mitleidlose Eugénie die grausame Orgie, „ich begebe mich jetzt zu Tisch. Keine Leidenschaft passt besser zur Wollust als Trunkenheit und Fresslust.“

„Grausamkeit ist ein Luxus für Müßiggänger, wie Rauschgifte und seidene Hemden“, heißt es bei Marguerite Yourcenar. Ist das eklig, widerlich, was wir an diesem Abend erleben? Ja, wenn man sich vorstellt, was da beschrieben wird. Doch: Was wir hören und sehen, ereignet sich in einer zwar revolutionär gesinnten, aber doch vom Großbürgertum beeinflussten, müßiggängerischen feinen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die Sprache ist drastisch und nimmt keinerlei Rücksicht auf Schamgrenzen, denn: „Das Schmutzigste und Gemeinste ist immer das Anregendste.“ Aber ihre Grammatik ist edel, die Bewegungen der Schauspielerinnen sind geziert, wenn auch voller Ironie. Es gibt keine expliziten Darstellungen, so gut wie keine Nacktheit, sondern phantasievoll-ironischen, manchmal auch lustvollen Umgang mit den geschilderten Geschlechtsakten und Sado-Maso-Spielen. Die „Exerzitien“ finden an anderen Folter-Instrumenten als vermutet statt: am Reck, an Turngeräten. Der Mega-Penis, an dem sich die Damen gütlich tun, ist eher eine Litfaßsäule denn der erigierte Stolz eines Mannes, und die Ladies turnen zwar volles Rohr drauf rum, aber eigentlich ist das Teil hohl. Diverse Säfte stehen ebenso wie die unvermeidlichen Bananen auf einem Tischchen. Lustvoll nutzt sie Mme de Saint-Ange zum Gurgeln. Das kann man eklig finden, weil man natürlich an alle möglichen Körperflüssigkeiten denkt, man kann aber auch schmunzeln über die nette schauspielerische Einlage von Nicola Gründel.

Gründel als Mme de Saint-Ange und Larissa Aimée Breidbach als Eugénie spielen großartig. Mal lauernd, mal begehrend umkreisen sie einander, perfekt finden sie die Balance zwischen Erotik und ironischer Distanz, und ihre sprachliche Prägnanz und Differenzierungsfähigkeit hält uns von der ersten bis zur letzten Minute … jetzt hätte ich doch fast gesagt: bei der Stange. Die Philosophie des Marquis de Sade bleibt ein wenig auf der Strecke. Da gibt es höchst blasphemische Passagen, es gibt die radikal-feministische Sicht: de Sades Forderung nach radikaler Befreiung von jeglicher Konvention nicht nur im Hinblick auf das Geschlechtsleben, sondern auch in Bezug auf die Autoritätsgläubigkeit in Religion und Politik klingt an, wird aber von den drastischen Schilderungen der Sexual- und Gewaltakte überdeckt. Dass nach de Sades Auffassung nur radikaler Libertinismus die Rückkehr der Republik zur Monarchie verhindern kann, hören wir nicht wirklich heraus an diesem Abend, zumal eben die Anmutung von Grausamkeit als müßiggängerischem Luxus den Gedanken an revolutionären Kampf für die Republik kaum zulässt. Dennoch ist der Abend eine Entdeckung: Er macht neugierig auf weitere Inszenierungen von Andrea Imler.  

Marquis de Sade übrigens empfahl den Müttern ihrer die Geschlechtsreife erlangenden Töchter, die Mädchen zur Lektüre des Buches anzuregen. Der Rezensent empfindet manche Altersangabe der FSK als zu konservativ gesetzt. Diesmal aber ist das Votum eindeutig: Ab 18!