Übrigens …

Und dann im Stadthalle Mülheim

Drei Verlierlinge und die Furie des Verschwindens

Der Wohnblock spuckt sie in / Den kalten Wind / … / Ab und zu nur sieht noch / Einer frierend hin / … / Wo die Fenster locken / Mit so gelbem Licht / … / Doch sie wissen diese / Zimmer wärmen nicht … (Silly / Tamara Danz)

Man denkt an Silly und ihre Verlorenen Kinder. Oder an Heiner Müllers legendäre Fickzellen mit Fernheizung. Die Geschichte, die sich da verbirgt in einem lange rätselhaft bleibenden, poetischen Text spielt sich im düsteren Ambiente ostdeutscher Plattenbauten unmittelbar nach der Wende ab. Da, wo die „drei Verlierlinge“ stehen, große Findlinge, „von Gletschern hergeschoben“. Da, wo drei Verlierlinge wohnen: „Vier Plattenbauten / drei Verlierlinge / zwei Kinder / ein Vater.“ Unaufhörlich wird diese Aufzählung wiederholt zu Beginn von Claudia Bauers Inszenierung von Wolfram Hölls mit dem Nachwuchspreis des Heidelberger Stückemarkts prämiertem Text. Abwesend: Die Mutter.

Dass es um die geht, begreifen wir erst viel später. Schemenhaft schimmert sie manchmal in einem alten Schwarz-Weiß-Film auf: eine hübsche junge Frau und die einzige, die nicht durch Schwellköpfe oder wie der häufig auf dem großen Videoschirm über der Bühne eingeblendete Vater durch die Kunst der Maskenbildnerin ins Monsterhafte verzerrt ist. Ihr Bild droht zu verschwinden in der unscharfen, um das Zentrum herum ausfransenden Projektion der uralten Filmvorführmaschine, so wie sie aus dem Gedächtnis der Kinder zu verschwinden droht. Warum sie fort ist, erfahren wir nicht, aber die Auswirkungen des Verlusts spüren wir. Nicht nur bei den Kindern, auch beim Vater: Dessen Verlust-Trauma äußert sich in Sprachlosigkeit - und in wiederholtem Anschauen alter Familienfilme. „Und dann / sehen wir es.“ Dann gibt es „ein Licht / … / sie / erscheint / sie“ - aber es gibt keine Erklärung. Vater flüchtet sich vors TV, vor den den Kindern unheimlichen „Würfelmittausendstimmendrinnen“; die Kinder flüchten sich auf die Straße zu den Findlingen, den steinernern Verlierlingen, und schmiegen sich an die kalten Steine, die im Abendlicht  zu glühen beginnen. Und sie „warten. Dass ein Gletscher kommt / … / und / uns wegschiebt / und wegschiebt / und fortschiebt / und vergisst.“ 

Vom Verlust und vom Verschwinden handelt Wolfram Hölls poetischer Text, der ganz aus der Perspektive eines (oder zweier?) kleinerer Kinder geschrieben ist. Nicht nur die Mutter - und mit ihr wohl auch den emotionalen Zugang zueinander - haben die drei Familienmitglieder verloren, sondern auch ihr Land: „Da bin ich noch: Mein Land geht in den Westen“, formulierte nach der Wende Volker Braun voller Wut, Trauer und Ratlosigkeit. In Hölls lyrischem Drama ist nun von „der Mauer die keine mehr ist“, die Rede, von den Russen, bei denen es nicht nur Vater und zwei Kinder, sondern auch eine Mutter gab. Von der „Panzerparadenlangenstraße“, auf der jetzt keine Panzerparaden mehr stattfinden, sondern die „Wagenparadenstraßenparadenwagen“ defilieren. Für die Kinder ist all das unverstandene Erinnerung, für den Vater bedeutet die Veränderung möglicherweise Verlust der Identität, der Aufgabe, der Arbeit. „Reden wir nicht darüber“ sagt der Vater.  Einsamkeit, Entfremdung, Trostlosigkeit machen sich breit - nur die beiden Kinder erscheinen im Text als eine Einheit. Nach siebzig Minuten deutet sich zumindest ansatzweise ein versöhnlicher Schluss an, ein Wiederfinden der Kommunikation. Die Kinder sind ausgerissen; mit Glück hat sie der Vater wiedergefunden. Gemeinsam schauen sie nun den Familienfilm, blicken auf das Bild der Mutter: „sie schaut uns an / und dann / erlischt / das Licht / und sie geht / geht weg / weg / in die Wellen“. Und draußen „sind drei Verlierlinge / … / und da sitzen / Vater / du / und ich.“    

So wie das Bild der Mutter in den verblassenden Film, so wird auch der Zuschauer sogartig hineingezogen in die Trostlosigkeit eines Texts, der nicht eigentlich ein Theaterstück ist, sondern ein Meisterwerk experimenteller Lyrik. Kindheitstraumata werden hier beschrieben, unverarbeitete Ängste, für die den Kindern die Worte fehlen. In Endlosschleifen wiederholt der Ich-Erzähler seine Sätze, ein kleines Kind auf der Suche nach der Sprache. Wie bei einem heranwachsenden Kind wird diese Sprache im Verlauf immer sicherer, ohne jemals die Sprachfertigkeit eines Grundschulkindes zu überschreiten. Umso bemerkenswerter aber sind die Sprachfertigkeiten des Autors: Er hat eine ungeheuer musikalische Partitur geschrieben; konsequenterweise hat der Musiker Peer Baierlein die Entwicklung der Inszenierung vom ersten bis zum letzten Tag begleitet und sie mit einem Soundtrack von Wagner bis Ost-Pop unterlegt. 

Die Handlung des Stückes bleibt so diffus wie die Erinnerungen des kleinen Kindes, doch lässt sich mit etwas Phantasie und Improvisationsvermögen eine ganz reale, logische Geschichte aus dem Text herausdestillieren. Diese Realität aber wird von Regisseurin Claudia Bauer und ihrem Team ins Alptraumhafte, teilweise auch ins rätselhaft Surreale gekippt und dann noch einmal überdreht - für den weniger auf intellektuell nachvollziehbare Zusammenhänge als auf ein Sampling kindlicher Gefühle setzenden Text möglicherweise eine weise Strategie. Die pinocchio- oder burattinoartigen Masken und Kostüme, die überdimensionalen angedeuteten Papp-Requisiten des Projektors oder des „Würfelmittausendstimmendrinnen“, die akustisch verstärkten Essgeräusche beim Verzehr endloser dunkler Papierschlangen und der ins Haus hineingewehte, die Unwirtlichkeit des Nach-Wende-Lebens der drei Verlierlinge betonende  Unrat verstärken das Alptraumhafte der Situation und das Gruselige auch der wenigen scheinbar idyllischen Familienszenen.

Übrigens: Wolfram Höll betonte in der abschließenden Publikumsdiskussion, dass das Stück keineswegs mit Blick auf eine typisch ostdeutsche Nach-Wende-Situation geschrieben worden sei. In der Tat funktioniert die Inszenierung zweifellos auch dann, wenn man sich in prekären Situationen lebende Familien zu anderen Zeiten und an anderen Orten dieser Welt vorstellt. Heftiger Applaus der Zuschauer, die zu Beginn etwas länger als üblich auf der Sinnsuche waren, aber am Ende das seltene Erlebnis eines emotional überwältigenden und doch experimentellen Theaterabends gehabt hatten.