Fiktion und Realität
Nathalie Oppenheim ist eine Bestsellerautorin – aber eine, die publikumsscheu ist, nichts preisgeben möchte von ihrem Privatleben. Deshalb sagt sie Einladungen zu Lesungen eigentlich auch immer ab – auch für ihren neuen Roman, der das Entstehen des Buchs Ihre Version des Spiels zum Inhalt hat. Nur für Büchernarr Roland Boulanger, der eine Lesereihe organisiert, macht sie eine Ausnahme und lässt sich zu einem öffentlichen Auftritt in der Mehrzweckhalle eines französischen Provinzstädtchens überreden.
Dort trifft sie nicht nur auf den Enthusiasten Boulanger, sondern auch auf die ehrgeizige Journalistin Rosanna Ertel-Keval, der es letztendlich nur um eins geht: sie will etwas erfahren über die Autorin – etwas Privates, vielleicht sogar ein dunkles Geheimnis enthüllen. Und so versucht sie Oppenheim in die Enge zu treiben, sie ständig gleich zu setzen mit der Heldin ihres neuen Werks Das Land des Überdrusses. Immer will sie von der Fiktion auf die Realität schließen. Und das Selbstbewusstsein der Autorin – ohnehin nicht sehr ausgeprägt – bröckelt minütlich. Das Chaos am Schluss wird dann perfekt durch den Auftritt des angetrunkenen Bürgermeisters, der die Veranstaltung mit Busengrapscherei und Absingen von Gilbert Bécauts Nathalie vollends aufmischt. Und so ginge ein trauriger Abend furchtbar zu Ende – wäre da nicht das Gedicht aus Boulangers Lyrikband, den er Nathalie Oppenheim zugesteckt hat. Sie rezitiert es, und über die Bühne schwebt ein ganz zarter Hauch von Hoffnung auf die Kraft der Literatur.
Yasmina Rezas Dialoge sind geschliffen und ausgefeilt wie immer, drehen sich aber gerade in den Interview-Passagen häufig um sich selbst, da eigentlich nur die Frage des literarischen Ich thematisiert wird – in endlosen Variationen. Das wirkt bisweilen ermüdend und erreicht sicher nicht die Tiefe vom Drei Mal Leben.
Was den Abend dennoch einfach sehenswert macht, ist das Ensemble des Wolfgang-Borchert-Theaters. Jürgen Lorenzen chargiert als Bürgermeister in vollen Zügen, ist der Proll unter Feingeistern und genießt seine Rolle spürbar. Sabrina von der Sielhorst gibt die Rosanna zickig und cool, rosa-rot gekleidet und immer in Kontakt mit der großen Welt.
Sven Heiß ist Roland Boulanger. Und ihn könnte man einfach nur knuddeln. Er verkörpert den Literatur-Junkie mit einer großen Echtheit, Hingabe und einfach entwaffnender Liebe. Diesen Menschen muss man gern haben.
Monika Hess-Zangers Nathalie Oppenheim ist eine hervorragende Charakterstudie: Bei aller Unsicherheit, aller Dekonstruktion durch die Journalistin - selbst im betrunkenen Zustand bewahrt sie ihre Würde. Ganz wunderbar die Melancholie, die Hess-Zanger stets verströmt.
Das Regie-Team Kathrin Sievers und Annette Wolf schaffen für diesen „Ringkampf“ das perfekte Ambiente. Eine Bühne wie für eine Talkshow, auf der auch Frau Maischberger, Frau Illner und die anderen Protagonisten verlorener Fernsehabende ihren Platz finden könnten. Sievers führt ihre Personen punktgenau, lässt an kleinen Gesten augenblickliche Seelenzustände erkennbar werden.
Der Applaus ist langanhaltend. Wirklich bedauert man, dass Das Land des Überdrusses nie geschrieben wurde. Die Leseproben klingen doch so verheißungsvoll.