Terror, Trauma und Fußball
Es gibt Tage, die vergisst man nicht. Ältere Leser, Männer vor allem, erinnern sich vielleicht noch an den 3. Juli 1974. Es war der Tag, als der Regen kam. Schiedsrichter Erich Linemayr pfiff das WM-Spiel mit 30minütiger Verspätung an, doch dann fand es statt. Unter irregulären Bedingungen zwar, aber das machte uns nichts aus, die wir Deutschland vor dem Fernseher anfeuerten. Lato, Deyna und Gadocha drangen mit ihrem legendären Kurzpass-Spiel nicht durch, denn immer wieder blieben ihre Bälle in den grünen Seen hängen, die sich auf dem Spielfeld gebildet hatten. 22 Spieler schwammen einem Ball hinterher, und am Ende gewann Deutschland. Durch wen? Natürlich durch Gerd Müller. Vier Tage später war Deutschland Weltmeister.
Die „Regenschlacht von Frankfurt“ gehört zu den Mythen, die sich um die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 ranken. Jimmy und Ian werden den 3. Juli 1974 ebenfalls nicht vergessen. Sie waren 16 Jahre alt, und in Belfast hatten sich die Männer im Pub versammelt, um das WM-Spiel Deutschland-Polen zu sehen. Beim Schlusspfiff war Jimmys Vater tot. Opfer einer Bombe, die der 16jährige Ian geworfen hatte. Mit ihm starben weitere fünf unschuldige Menschen. Nur weil sie katholisch waren. Umgebracht durch einen von den protestantischen Loyalisten instrumentalisierten Jugendlichen, dem man dafür ein Mädchen seiner Wahl versprochen hatte. Die Polen sind übrigens ebenfalls fast alle katholisch.
Der vielfach ausgezeichnete nordirische Dramatiker Owen McCafferty hat mit Quietly ein very, very well made play geschrieben - ein Stück über Fußball und Politik, über Traumatisierungen, Schuld und unbewältigte Vergangenheit, über Reden und Schweigen - und am Ende, vielleicht, über neuen aufziehenden Rassismus. Jimmy sitzt wieder in der Kneipe, in der einst sein Vater gesessen hatte, und wieder läuft im Fernsehen ein Spiel der polnischen Nationalmannschaft. Ein Qualifikationsspiel gegen Nordirland. Der Pub wird von Robert geführt, einem Polen. Jimmy ist oft in dieser Kneipe, wenn Fußball läuft, und er weiß alles über Deutschland-Polen 1974. Über den Fußball von heute weiß er nicht viel, obwohl er ständig vor dem laufenden TV sitzt. Haben die Nordiren keinen Nationalstolz? Nun, sie haben sogar zwei. Den der irischen Republikaner und den der britischen Loyalisten.
Jimmy brütet vor sich hin. Er wirkt introvertiert, gibt kurze, eher lakonische Antworten auf Roberts Fragen. Bis Ian kommt. Erstmals nach 36 Jahren treffen die beiden aufeinander: das Opfer und der Täter. Ian will reden, Jimmy nichts hören. Jimmy ist konfrontativ, schnell gibt es einen überraschenden Bodycheck gegen Ian. Der ist vor Schuldkomplexen kaum in der Lage, das Gespräch in Gang zu bringen: „Ich war erst sechzehn“, wiederholt er wieder und wieder. Traumatisiert sind beide von den damaligen Geschehnissen. Vordergründig von den Umständen des Anschlags: Ian von der Schuld, die er bei seinem allerersten Einsatz für die Loyalisten auf sich geladen hat, Jimmy von dem Anblick der getöteten Männer, des in mehrere Teile zerrissenen Leichnams seines Vaters. Aber - und das macht einen Teil der Qualität von McCaffertys Stück aus - es gibt die Story hinter der Story: das Leiden der jungen Frau, die den Auftrag bekam, Ian zur Belohnung für seine Tat zu entjungfern. Das Leiden von Jimmys Mutter, die an dem Verlust ihres Mannes zugrunde ging. Jimmy fühlt sich schuldig, weil er den Kummer seiner früh an Krebs verstorbenen Mutter niemals wirklich ernst nahm; Ian fühlt sich schuldig, weil Sheila ihm Jahre später erzählt, dass sie von ihm schwanger wurde und illegal abgetrieben hat. 72 Jungfrauen im Paradies für einen terroristischen Anschlag? Mit dem Traum islamistischer Terroristen könnte McCaffertys Stück eines archaisch anmutenden, aber immer noch nicht völlig überwundenen innerchristlichen Terrorismus aufräumen…
Jimmy Fay setzt das Stück im realistischen Kneipen-Bühnenbild von Alyson Cummins ganz konventionell in Szene. Mehr zu tun, hätte der Wirkung vermutlich nur geschadet. Patrick O’Kane und Declan Conlan verschaffen dem Abend eine Atmosphäre ungeheurer Intensität. Conlan als der schuldbeladene Ian vergräbt sich tief in sich selbst; er wirkt verschlossen und unzugänglich, doch leidet der Zuschauer mit ihm, denn er spürt in jeder Sekunde seine Sehnsucht nach Gespräch, nach Gewissenserleichterung durch vollständige Offenbarung. Doch Patrick O’Kanes Jimmy hilft ihm nicht: er nimmt eine konfrontative Haltung ein, provoziert sein Gegenüber (weitgehend vergeblich), wirkt manchmal wie ein Boxer vor dem Angriff. Meist glaubt man ihn kurz vor der Implosion; wenn er sich kleine emotionale Attacken erlaubt, spürt man die Resignation, das Wissen, dass ihm weder ein verbaler Rache-Akt noch ein konstruktives Gespräch helfen würde, die Gespenster der Vergangenheit zu verdrängen. Als Ian sich outet, als Conlan von den hasserfüllten Ideologien der verfeindeten Parteien erzählt, als sowohl Ian als auch Jimmy von ihrem fotografischen Gedächtnis berichten, in dem sie die Szene nach dem Anschlag bewahren, könnte man im Parkett eine Stecknadel fallen hören. Die Betroffenheit der Zuschauer ist mit Händen zu greifen. Bitterer, tiefschwarzer Humor lindert die emotionale Härte der Szenen nur vorübergehend.
Kann eine solche Geschichte, wie sie Jimmy und Ian miteinander erlebt haben, ein Happyend haben? Höchstens ansatzweise. Conlans Ian bietet seinen Panzer dar, auf dass man ihn ihm abreiße. O’Kanes Jimmy gibt ein paar Schüsse ab auf diesen Panzer. Eine echte Versöhnung gibt es nicht. Doch die beiden tauschen sich über ihre Verletzungen aus. In den Pub gehen, um gemeinsam Fußball zu gucken, werden sie in diesem Leben nicht. „Don’t ever come back here“, sagt Jimmy. Und doch hat man am Ende miteinander geredet: „We met. We understand each other. That’s enough.“
Das Fußballspiel am TV ist zu Ende. Patrick O’Kane, im wahren Leben selbst ein exzellenter Fußballer, verlässt Kneipe und Bühne. Draußen gibt es Aufruhr. „Fucking Polish bastard“, bedrohen die abziehenden Fans den Barkeeper Robert, und der holt zur Sicherheit den Baseball-Schläger aus der Ecke. In Belfast leben heute viele Polen. Die nehmen den wackeren Nordiren die Arbeitsplätze weg. Und sie sind katholisch. Es gibt Menschen in Nordirland, die fürchten das Aufziehen neuer Gewalt, eines neuen Rassismus im Land. Der alte lebt währenddessen fort. Gerade wurde Gerry Adams, der Vorsitzende der proirisch-katholischen Sinn Fein und frühere Chef der terroristischen IRA, wieder einmal festgenommen - wegen Verdachts der Ermordung und Folterung einer fälschlich der Kooperation mit den Protestanten beschuldigten Frau im Jahre 1972 (!). Eine inzwischen erlassene Amnestie für verurteilte Straftäter gilt für ihn nicht. Zuletzt war Adams, der damals fraglos zu den gefährlichen Terroristen zählte, zu einem der Architekten des nordirischen Friedensprozesses geworden. - Wann wird man je verstehn…?