Insel der Vergeltung
Die Insel ist … ja ja, voll Lärm schon, aber nicht voll süßer Lieder. „Inselreiche“ heißt das Motto der Ruhrfestspiele 2014. Aber es gibt halt nicht nur Blumeninseln und Honeymoon Destinations, nicht nur die Malediven, Madeira und Hawaii. Es gibt auch Alcatraz oder die Teufelsinsel vor Französisch-Guayana: berüchtigte Gefängnisinseln. In Gísli Örn Gardarssons Inszenierung von William Shakespeares Sturm, der Eröffnungsproduktion der diesjährigen Ruhrfestspiele, hausen Gefangene in einem nur gut einen Meter hohen Folterkeller: Menschen, die, dumpf stierend und zuckend, nach langem Leiden an der Grenze zum Tier angelangt sind. Das Erdgeschoss bietet zwar Platz für den aufrechten Gang, ist aber ansonsten auch nicht viel gemütlicher. Es ist das Reich des emeritierten Herzogs von Mailand und Herrschers der Insel, des Zauberers Prospero, und seiner Tochter Miranda. Nach dem Motto „Auf die Bäume, ihr Affen, der Wald wird gefegt“ klettert Miranda vorwiegend an dem das Foltergefängnis bildenden Gestänge herum; das auf etwas infantile Weise selbstbewusste, auf Manga-Mädchen geschminkte Zauberertöchterlein scheint auf der Insel wie alle anderen Figuren mit Ausnahme Prosperos schon dem Prozess der Abschaffung der Menschenarten anheim gefallen zu sein. Was hoch über dem Obergeschoss anmutig durch die Lüfte paddelt und, offenbar der ehemaligen Kunstturn-Nationalmannschaftszugehörigkeit des Spielleiters huldigend, am Bungee-Seil beeindruckende Salti schlägt, ist keineswegs der Luftgeist Ariel, sondern es handelt sich um den veritablen Schauspieler Franz Pätzold als Ferdinand. Der schiffbrüchige Sohn des schiffbrüchigen Bruders des schiffbrüchigen Königs von Neapel ist auf der Insel gestrandet, woran die Zauberkräfte Prosperos und Ariels nicht ganz unschuldig sind. Flugs verliebt sich Miranda in das unbekannte Flugsubjekt - SIE FLIEGEN DURCH DIE LÜFTE VÖGELN GLEICH hieß es früher in einer intelligenten Werbung für einen dümmlichen Film, doch zum Vögeln bleibt bei Gardarsson keine Zeit: Nach einem kurzen Blowjob wird Miranda ihrem Märchenprinzen entrissen. Liebe passt nicht zu diesem unerbittlichen Sturm der Rache; außerdem will der Regisseur mit Shakespeares umfangreichem Werk in 80 Minuten fertig sein. Wer nicht Sturm-erfahren ist, dem bleibt von der Liebesgeschichte zwischen Ferdinand und Miranda in Recklinghausen nur eine Hirn-Flaute, denn so recht verstehen lässt sich dieser Handlungsstrang nicht.
Gardarsson konzentriert sich in seiner auf wenige Gedankenstränge skelettierten und extrem gekürzten Neufassung auf Prosperos Rachepläne. Auch zwölf Jahre nach seiner Vertreibung durch den nun ebenfalls auf der Insel gestrandeten Antonio sinnt der gestürzte Ex-Herzog von Mailand auf Vergeltung. Prospero wütet, was das Zeug hält; seine Verbitterung und seine Misanthropie erscheinen pathologisch. Verletzter Stolz und Gerechtigkeitssinn, Rachedurst, aber - so sei einmal küchenpsychologisch spekuliert - auch Einsamkeit und der damit verbundene Mangel an jeglichem gesellschaftspolitischem und sozialem Korrektiv haben dazu geführt, dass er sich zu einem mitleidlosen absolutistischen Diktator entwickelte. Die Erinnerungen an das erlittene Unrecht, aber auch der unbedingte Wille zur Macht sind noch frisch wie am ersten Tag. Sie haben ihn aber auch vor der Verwahrlosung bewahrt - als einziger tritt Prospero in menschlichem Gewand auf, staatsmännisch, in leicht angegammeltem schwarzen Anzug und mit unübersehbarem Rest an Würde. Seine negative Energie und seine Lebenseinstellung sind zwar nicht sympathisch, aber menschlich. Dagegen sind der auch in Shakespeares Original zwielichtige, missgestaltete Hexensohn Caliban und der meist positiver gezeichnete Luftgeist Ariel kaum voneinander zu unterscheiden: animalische Bestien und gefährliche Wegelagerer sind sie beide.
Wenn Gunther Eckes als Ariel nämlich später ins blütenweiße lange Abendkleid steigt, ist dies nur Auftakt des finalen Gemetzels. Shakespeares Happyend fällt aus: Prospero hält nicht Tribunal, um letztlich allen zu vergeben, sondern er liefert sich an der Seite des viel brutaleren Ariel einen Kampf bis aufs Messer mit Antonio und Sebastian. Fechtduelle vom Feinsten gibt es, Lichtschwerter blinken zu pulsierender musikalischer Geräuschkulisse: Fans der Matrix- und der Martial Arts Filme können nun Zitate sammeln. Auf der Insel voller Lärm herrschen nun Star Wars. Am Ende sind die Feinde tot. "Oh schöne neue Welt, die solche Menschen trägt", stellt Miranda im Einklang mit ihrem vor 450 Jahren geborenen Schöpfer fest, und auch Prospero ist wieder bei Shakespeare: "Übt Nachsicht, lasst mich frei." - Ob er nun frei ist von seinem pathologischen Verfolgungswahn, ob er sich nun wieder zu einem freundlicheren Menschenwesen wandeln kann? Auf dieser Insel jedenfalls, so glauben wir, wird kein Gras mehr wachsen.
Der isländische Regietheater-Held und Dekonstruktionskünstler Gardarsson hat das Stück im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels inszeniert. Dort umringt das Publikum die Stätte des Schauderns an allen vier Seiten, und die Metallkäfige von Börkur Jónssons grandiosem Bühnenbild umschließen selbst den Zuschauerraum. In Recklinghausen verfolgen wir das Geschehen auf einer konventionellen Guckkasten-Bühne und sitzen dabei im edel bürgerlichen Parkett. Das nimmt der Inszenierung an Intensität; mehr als der Aufführung gut tut, bleiben wir auf Distanz. Wir sehen tolle Bilder und großartig choreographierte Fecht-Szenen, die Schauspieler fliegen akrobatisch durch die Lüfte, die Geschichte wird in rasantem Tempo erzählt - und doch wirkt der Abend verhältnismäßig statisch. Selbst Manfred Zapatka als Prospero, immer ein Garant für großes, charismatisches Theater, kommt an diesem Abend eher deklamatorisch rüber. Da die Inszenierung auf Action und Akrobatik angelegt ist, kommt der Sprache weniger Bedeutung zu - am Originalschauplatz in München ist das vermutlich kein Problem, in Recklinghausen fiel auf, dass oft ein nicht bis ins Detail ausgefeilter Text deklamiert wurde. So haben wir denn eine Ahnung bekommen von der inzwischen europaweit gerühmten Regiekunst von Gardarsson, aber leider auch gespürt, wie schwierig es ist, eine Inszenierung in einen völlig anders gearteten Raum zu verpflanzen