Übrigens …

Archiv des Unvollständigen im Stadthalle Mülheim

Der Tod des Komponisten gebiert Sprachmusik

München, Berlin, Zürich, Hamburg - seit Jahren schon sind es nahezu ausschließlich die großen Metropolen, aus denen die „bemerkenswerten“ Inszenierungen stammen, die zum Berliner Theatertreffen eingeladen werden. Warum schaut eigentlich niemand auf das, was im Verborgenen blüht? Zum Beispiel in… Oldenburg. Dort, im fernen Nordwesten Niedersachsens, sind sie vernetzt wie in den größten Metropolen: Das Staatstheater zeigt uns im Rahmen von „Stücke 2014“ eine Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen aus dem vergangenen Jahr, und die entpuppt sich als ein versponnener, skurriler Theaterabend, wie er schweizerischer kaum sein könnte. Erkennbar haben sich die Zürcher Laura de Weck, Thom Luz und Mathias Weibel von Christoph Marthaler und Ruedi Häusermann beeinflussen lassen, und doch ist ihnen mit ihrem Archiv des Unvollständigen ein höchst eigenständiges sprachmusikalisches Kunstwerk gelungen. Konsequenterweise nennen sie ihre dadaistische, poetische, melancholische Komposition einen „Sprachmusikabend“.

Und wo entsteht Sprachmusik? Natürlich im Tonstudio. An ein solches erinnert auch das Bühnenbild der Ausstatterin Lisa Maline Busse, und die Möglichkeit, in einem kleinen Raum alle Geräusche und Wortbeiträge auf unterschiedliche Weise präzise aussteuern zu können, ist wesentlich für die geradezu übersinnliche Atmosphäre mancher Passagen der Aufführung. Caroline Nagel definiert mit eindringlicher Stimme die Anforderungen, die an ein ordentliches Theaterstück zu stellen sind - die Aufzählung wird immer skurriler, scheint sich aber irgendwie an Shakespeare zu orientieren. Wir ahnen schon: Beim Archiv des Unvollständigen werden diese Anforderungen höchst unvollständig erfüllt werden. Doch fragen wir uns einmal selbst: Was gehört denn unbedingt zum Plot bei Shakespeare, Dostojewski oder Rosamunde Pilcher? Mindestens jedenfalls: Liebe und Tod.

„Ich liebe dich!“ heißt es zu Beginn eines im Verlaufe des Stücks sich mit wechselnden Rollen wiederholenden Dialogs. „Mhm. - Wie meinst du das? Denkst du das oder ist das ein Sachverhalt?“, lautet die Antwort.  Bei den Themen Liebe und Tod, so sagen Laura de Weck und Thom Luz, hat sich die Menschheit in eine sprachliche Einbahnstraße manövriert. Wie formuliert man eine Liebeserklärung, wie reagiert man darauf? Was antwortet man auf eine Todesnachricht? Was sagt man, wenn man zu spät zu einer Beerdigung oder zum Sterbebett kommt, weil der Zug Verspätung hatte? - Das sind Situationen, in denen wir an die Grenze unserer Sprache kommen und an denen die Sprache durch Floskeln abgenutzt ist. Die Grenzen unserer Sprache und das, was nach dem Erreichen dieser Grenze passiert, sind es, was das Autoren- und Regie-Team interessiert hat. Beim Archiv des Unvollständigen setzt dann Musik ein. Musik, die aus den unterschiedlichsten Klanginstrumenten gewonnen wird: Vom Klavier (Vincent Doddema ist als Pianist ebenso eine Wucht wie als Schauspieler), vom Kontrabass, von der Mandoline. Vom knackenden Mikro und vom rauschenden Radio. Vom Klatschen der Ohrfeigen oder von rhythmischen Schritten auf der Treppe. Undsoweiter … Doddema macht die Humba: „Gib mir ein a!“ „Ein e“. Ein i, ein o - es handelt sich also um Vokale, nicht um Noten. Doch das u fehlt - Laura de Weck wollte schließlich ein Archiv des Unvollständigen anlegen.

Unvollständig blieb auch das Leben des Komponisten Charles Ives. Womit sich unsere drei Themen Liebe, Tod und Musik als Grenze der Sprache endlich berühren. Ives‘ 6. Symphonie blieb ein Fragment. Es war die „Universe Symphony“, geschrieben für mehrere Orchester und getrieben von der Sehnsucht, eine universelle, alles umfassende Enzyklopädie unserer Welt und unseres Lebens zu schaffen - Vollständigkeit also. „Dadada dadada“ singen die Schauspieler zur Mitte des Stücks; es klingt als wären sie gerade selbst darauf gekommen, dass ihr Werk sich prima in der Tradition des Dada lesen lässt, aber die Melodie, zu der sie singen, entspricht den letzten Takten, die Charles Ives in seiner Symphonie aufgeschrieben hat. Das Sterben des Charles Ives ist, wie wir nach etwa der Hälfte des 100minütigen Abends erkennen, der rote Faden, der sich durch die Inszenierung zieht. Es werden viele kleine Geschichten erzählt, manche davon sind wahr, manche erfunden - aber die immer wiederkehrende und ganz wahrhaftige Geschichte ist die vom Tod des Komponisten. Viele kleine Szenen werden wir nach und nach in unseren Köpfen zusammensetzen zu einer zusammenhängenden Begebenheit. Andere Geschichten werden nur kurz angedeutet, z. B. die - ebenfalls wahre und schön gruselige - Story der Zwillingsschwestern June und Jennifer Gibbons, die ab ihrem 11. Lebensjahr kein Wort mehr sprachen, sich völlig synchron und langsam bewegten, aber offensichtlich miteinander kommunizierten. Sie wurden kriminell, sie sprachen nicht, aber sie schrieben wortgewaltige Geschichten und Romane voller Sex und Gewalt. June und Jennifer - eine war ohne die andere: unvollständig.

Auch wenn wir lange nicht begreifen, nimmt uns die Inszenierung von Thom Luz nach wenigen Sekunden gefangen. Schauspiel, Text und Musik schaffen eine Atmosphäre von bezaubernder Magie. Komik und Melancholie, absurde und berührende Momente halten einander die Waage; der Rhythmus der Komposition ist so perfekt, dass man sich nicht vorstellen könnte, auch nur ein Jota daran zu verändern. Bis zum Schluss. Da stirbt Charles Ives, und eigentlich könnte der Abend jetzt zu Ende sein. Doch er geht weiter, dreht noch ein paar Schleifen, die dem Zuschauer redundant vorkommen. Kaum jemand im Publikum dürfte wissen, was uns Thom Luz in der anschließenden Diskussion erklärt: In diesen letzten, scheinbar redundanten fünf bis zehn Minuten wird unter anderem eine Komposition von Arthur Honegger angespielt, mit der dieser versuchte, Charles Ives‘ „Universe Symphony“ zu Ende zu schreiben. Es ist ein Vervollständigungsversuch, der schon bei Honegger nicht wirklich gelungen ist - und von dem Luz und de Weck wissen, dass er dem Gesamteindruck ihres so perfekten Werkes eher schadet. Aber „dieses strukturphilosophische Element fand ich derart schön - es war mir so wichtig, dass es einfach sein musste“, sagt Thom Luz.

Wir staunen - und applaudieren heftig auch für diese konsequente Entscheidung. Wir konstatieren: Christoph Marthaler und Ruedi Häusermann haben würdige Nachfolger gefunden. Und: Oldenburg ist viel schöner als Berlin!