Übrigens …

Alltag & Ekstase. Ein Sittenbild im Mülheim, Theater an der Ruhr

Arena der Intimitätsgladiatoren

Prolog

Zuerst denke ich an Zirkus, als ich den Aufführungsraum der Kammerspiele des Deutschen Theaters (DT) betrete. Ein Gemisch aus Sägespänen und Schweiß scheint in der Luft zu liegen. Doch es ist eine Nebelmaschine, die diesen Geruch erzeugt. Ein Geruch, der oft außerhalb des gewohnten Alltags zu riechen ist: in Clubs, bei Rockkonzerten, kurzum: bei Events. Und mit Events der Extraklasse beginnt das Stück Alltag & Ekstase, einem Auftragswerk der jungen Autorin Rebekka Kricheldorf für das Deutsche Theater Berlin.

Fünf Personen in Bergsteigermontur betreten die Bühne. Der Nebel suggeriert Kälteschwaden, irgendwo hoch oben auf einem Mehrtausender. Fünf Wohlstandsindividuen auf einem Trip zwischen Event-Tourismus, Schönheit der Natur und der Suche nach dem letzten großen Abenteuer, der Suche nach sich selbst. Doch Individualismus ist nicht gleich Freiheit, denn selbst, oder gerade hier oben, sind die Suchenden nicht allein. Fünf Individuen sind durch ein Seil aneinander gekettet und stehen im Stau, im Stau der Selbsterkenntnis. Fools on the hill. Und keiner, das zeigt das Stück auf eindrücklich schmerzliche Weise, ist hier frühzeitig über den Berg. Dann wird die Bühne, die vorher von einer Plane verdeckt ist, gelüftet. Zum Vorschein kommt eine Manege, eine Arena, erfüllt von Nebel. Wird er sich auflösen?

 Wir machen alle immer irgendetwas

 Im Zentrum des Stückes steht Janne (Jannek Petri), ein jungenhaft wirkender Enddreißiger. Seit zwei Jahren versucht er, ein Konzept für seine Ein-Mann-Firma zu schreiben. Ein Freelancer, bei dem Büro und Zuhause am gleichen Ort sind. Er macht immer etwas: Hat Studien begonnen und abgebrochen, ein Café betrieben, eine Tochter gezeugt. Deren Mutter, Jannes Ex Katja (Franziska Machens), findet, Janne fehle beim Sex der Rhythmus (bei dem sie immer noch mitmuss?). Sie sucht das Abenteuer im Leben, will Sicherheit bei einem 'richtigen' Mann und ist mit der Erziehung ihrer 13-jährigen Tochter River (Nermina Jovanovic / Zoë Seelig) überfordert.

 Machens zeigt Katja als eine Frau zwischen Wüterich und Zukurzgekommener, immer auf der Kippe zwischen hilflosem Anschmiegen und Kratzen. In ihrer gekonnt dargestellten Mischung aus leicht verwahrloster Konsumgöre und melancholischer Träumerin wirkt sie fast so girliehaft wie ihre eigene Tochter. Doch wo ist Orientierung? Bei den Eltern Jannes: Günter (Harald Baumgartner) und Sigrun (Judith Hoffmann)? Alle machen immer irgendetwas. Doch das hat wenig mit festen Fundamenten, klaren Konzepten und geordneten Familienverhältnissen zu tun. Das müsste es ja auch nicht. Aber es herrscht Chaos in diesem Selbstfindungs-Zirkus. Und da überholen die Alten die Jungen bei weitem in ihrer Mischung aus Ethnokitsch, Hippierausch und Solarhausautarkie. Alle scheinen sich zu verstehen. Jeder redet, analysiert und fordert transparente Seelenakrobatik beim Anderen. So transparent die Aussprache, so transparent auch das Bühnenbild. Um die Spielfläche herum stehen Stühle, auf denen die Schauspieler sitzen, sich umziehen, sichtbar auf- und abtreten. Das Ganze ähnelt einem Nummernprogramm und hat den Charakter von Improvisation. Jeder scheint zu verstehen, weil alle sich im Grund doch sehr ähnlich sind. Selbst die Idolfixiertheit scheint vererbt: River verehrt Rockmusik, Katja verehrt River Phoenix (den Namenspaten ihrer Tochter) und Sigrun verehrt Jim Morrison, den sie leider nie gesehen hat, weil es ihre Eltern ihr damals verboten hatten, auf ein Doors-Konzert zu gehen. Und als sie alt genug war, war Jim Morrison schon tot. 

Dicht ist die Sprache im Stück. Voll sind die Münder mit Worten. Manchmal witzig, oft gewaltig. Eine Mischung aus Therapiesitzung, Parodie und Alltagssprech. Alle reden, doch keiner hört dem andern so richtig zu. River ist die einzige Figur, die kein Wort spricht, doch über die viel geredet wird. Um die sich scheinbar alle bemühen, und die alle Bemühungen der Erwachsenen mit Ignoranz oder manchmal brutal wirkender Missachtung straft, wenn sie etwa dem Stoff-Octupus, einem Mitbringsel von Janne, die Augen aussticht. River gibt keine Impulse. Sie reagiert nur, steht damit jedoch umso mehr im Zentrum der Handlung. Ein Spiegelbild für die (fast ausnahmslos) sinnlosen Bemühungen der anderen, irgendwo Halt und Orientierung in ihrem Leben zu finden.

Sigrun baut mit eigenen Händen ein solarbetriebenes Landhaus, versucht sich erst von gesellschaftlich propagierter Männlichkeit, dann schließlich (durch eine hohe Abfindung) von ihrer eigene Familie abzukapseln. Günter zelebriert religiös-kulturelle Rituale irgendwo zwischen  Buddhafigur, mexikanischem Totentanz, Chanukkah-Leuchter und ein wenig Sushi. Auch er auf der Suche nach einem Idol. Oder zumindest einem homoerotischen Abenteuer in Form eines jungen Japaners. 

 Der japanische deus ex machina

 Takeshi (Thomas Schumacher), der junge Lover Günters, kommt nach Deutschland und konfrontiert in seiner (fast beängstigend wirkenden) grenzenlosen Offenheit für die deutsche Kultur alle anderen mit ihren ureigenen Sitten und Ritualen. Menschen brauchen schließlich Rituale. Doch die sind manchmal verdammt prollig, spießig gesellig statt individualistisch, chauvistinisch statt aufgeklärt-gebildet. „Hölle! Hölle! Hölle“ - Wolfgang Petry liefert den Soundtrack dazu. Statt Individualitätswahn die Selbstfindung im Kollektiv? Für Takeshi zumindest ist es kein Widerspruch: individuelle Ekstase an einem Ende der Welt, am anderen die alltägliche Familiengemeinschaft.  

Über den Morast aus Folklore zwischen Lederhose, Bierzelt, Maßkrug und Volkslied durchlaufen die Figuren Irr- und Biergärten der Identitäten. Eine Entwicklung, die im Falle von Janne am Ende etwas von karthartischer Selbsterkenntnis bekommt. Auch wenn die Figur Takeshi, die Schumacher als eine Mischung aus naivem Beobachter und überzogener (Parodie)Figur zeigt, nicht wirklich Orientierung bietet. So trinkt Janne irgendwann, verkleidet mit Widderkopf, auf Anraten seines japanischen Meisters erst ein Glas Urin, von dem eine Wunderwirkung ausgehen soll, vereint und wälzt sich dann mit dem Fremden (Selbst) in parodistisch wirkender Slow Motion am Boden im Ringkampf, der mit einer großen Geste, dem Schlag ins Gemächt Jannes, endet und Jannes Initiation zum Mann, zum Vater, zum Selbst zu vollenden scheint. Und die anderen?

Janne und Katja reden (mal wieder) bei Kaffee und Kuchen auf der neuen Couch Jannes über sich, darüber, dass Katja in Jörg ihren neuen Traumprinzen gefunden und River sich aus dem familiären Umkreis verabschiedet hat. Sigrun, deren Holzhaus nach einem Kabelbrand vollständig zerstört ist, kehrt zur Familie zurück und findet ausgerechnet bei ihrem Ex Günter Unterschlupf, der wiederum eine mehrmonatige Forschungsreise nach Papua-Neuginea bewilligt bekommen hat. Statt japanischem Abenteuer (Takeshi ist in sein bürgerliches Leben nach Japan zurückgekehrt) bricht Günter nun in die Südsee auf. Er wird dabei bloß sein deutsches gegen ein papua-neuguineanisches Ich eintauschen und den Tod statt beim drögen Verkehrsunfall durch einen ekstatischen Schlangenbiss im Urwald finden.

Einzig Janne also scheint zu sich zu kommen. So banal es klingen mag: Darin liegt vielleicht das Individuelle: im Bei-Sich-Sein. Statt Ekstase das große Abenteuer Alltag, statt permanenter Selbstsuche die Erfüllung, etwa als Vater mit seiner Tochter im Flugzeug zu sitzen und darüber zu reden, wer von beiden lieber am Fenster und wer im Gang sitzen will.

 Epilog: Der Nebel ist verzogen

 Es sei ein „überzogener und komödiantisch überspitzter Blick auf Gesellschaft", so die Autorin Kricheldorf, deren Stücke mehrfach ausgezeichnet sind und regelmäßig an Bühnen in Deutschland und der Schweiz uraufgeführt werden. Überzogen, eher tragikomisch wirkt vieles bei Alltag & Ekstase: ob der Ringkampf beim Erweckungsritus Jannes, das Bewerbungsschreiben (für das Forschungsprojekt in Papua-Neuguinea), das Günter in den Laptop diktiert und das so zerstückelt und widersprüchlich ist wie seine eigene Biografie, oder Takeshis und Günters erstes Wiedersehen und ihre Konversation in einer deutsch-japanischen Kunstsprache. Und natürlich die omnipräsenten Gefühlsdarlegungen und Sprachbilder, die das Stück allerdings bisweilen in seiner Klarheit vernebeln und gewollt gewaltig daherkommen.

Allen voran aber ist das Ensemble lobend zu erwähnen, das in seiner Spielfreude mühelos zwischen Absurditäten, Moralismen, großem Drama und Kaffeeklatschgespräch springt, ohne die Spannung zu verlieren, und die Suche nach dem Selbst als einen wahren Kampf zeigt, der auf verschiedenen Ebenen, mit verschiedenen Mitteln geführt wird. Oder eben als einen großen Zirkus als Kampf der Intimitätsgladiatoren. Thomas Schumacher, der als Takeshi konsequent den Japanersprech persifliert und das Publikum fast zum Mitschunkeln beim Oktoberfest animiert, überzeugt durch seine sprachliche und vor allem auch körperliche Präsenz (ob als Bergsteiger, Hund, smarter Japaner oder Ringer). Die Elternfiguren, gespielt von Judith Hofmann und Harald Baumgartner, stellen in ihrem Wechsel aus Pseudooffenheit und Rigidität, versuchter Erfüllung eigener Wünsche und Ausbrüchen eine Generation dar, die jetzt vor lauter Beschau der ureigenen persönlichen Wurzeln wie entwurzelt vor der ihrer Kinder steht. Die größte spielerische Entwicklung, analog zur Entwicklung der Figur, zeigt Jannek Petri, vom eher unscheinbaren, aufgeklärten Ewig-Adoleszenzer mit Laptop und Müsli zum ekstatischen, extrovertierten und auch witzigen Spiel während des Ringkampfs bis hin zur Figur, die zu (Vater-)Liebe fähig ist. Alltag & Ekstase überzeugt und bewegt trotz einiger Klischees, in seiner Atemlosigkeit und Kraft sowie vor allem mit der Aktualität des Themas, weil es von einem Kampf erzählt, der sich rein äußerlich wie ein Versprechen endloser Freiheit tarnt: dem der fehlenden Hierarchie zwischen den Generationen und des um jeden Preis auszulebenden Intimlebens.