Tennis in Oldenburg
„Ein Hund kam in die Küche“ - das Kinderlied ist tatsächlich Bestandteil von Samuel Becketts Stück. Passt ja auch, denn das Lied ist so endlos wie das Warten auf Godot. Wladimir und Estragon freuen sich in Ivan Panteleevs Neu-Inszenierung sichtlich darüber, dass der Köter ausgerechnet „dem Koch“ ein Ei stahl - Estragon wird nämlich von Wolfram Koch gespielt. Ein blöder Kalauer, der uns doch ein Schmunzeln auf die Lippen zaubert. Vor allem aber ein Kalauer, den man in Becketts nihilistischem Stück nicht erwartet. Und der darauf hindeutet, dass wir es bei Panteleev mit einer Inszenierung zu tun haben, die dem Komödiantischen nicht abgeneigt ist.
Dabei beginnt der Abend düster: Ein Suchscheinwerfer, der fatal an Gefangenenlager oder an die ehemalige deutsch-deutsche Grenze erinnert, lässt langsam sein Licht über die kahle Bühne gleiten. Aus dem Hintergrund klingt ein leises, kaum vernehmliches Grollen. Langsam wird die rötliche Decke weggezogen, die die Bühnenschräge verkleidet. Wladimir und Estragon krabbeln aus einem kreisrunden Trichter in der Mitte hervor. Ist es ein Bombentrichter? Der Eingang zur Unterwelt? Eine Art Satellitenschüssel, die die schwer zu entschlüsselnden Botschaften des Stücks sammelt und wieder ausspuckt? So wie Beckett uns sein Stück nicht erklärt hat, erscheint auch hier eine Interpretation spekulativ. Das legendäre Beckett-Bäumchen jedenfalls, das nahezu jede Aufführung des Stücks dominiert, fehlt. Ist von dem Baum die Rede, nähern sich Wladimir und Estragon dem Scheinwerfermast am hinteren Rand der Bühne. Und wird von irgendwelchen anderen Requisiten gesprochen, dann blicken die beiden Anti-Helden auf den Boden, ins Leere. Ein „lauschiges Plätzchen“, wie Estragon zu Beginn sagt? Nein, die Welt ist leer, Verschwinden und Auftauchen kann man in einem Trichter, und auch der Suchscheinwerfer findet nichts als Leere.
„Einer von den Schächern wurde erlöst. Das ist eine gute Quote.“ Aller Leere zum Trotz durchzieht Stück und Inszenierung eine Erlösungshoffnung - mit einer pessimistischen Konnotation gleich zu Beginn. Dass Godot der Erlöser sein soll - nun, verbal klingt diese Hoffnung zum Schluss noch einmal an, doch scheinen Wladimir und Estragon in Ivan Panteleevs Inszenierung selbst nicht daran zu glauben. Ihr Warten wirkt bei Samuel Finzi und Wolfram Koch mehr routiniert als verzweifelt. Es scheint, als hätten sie sich eingerichtet in ihrem ausweglosen Schicksal. Ihr Warten besteht aus einem Zeittotschlagen. Sogar mit dem Auftauchen von Lucky und Pozzo oder mit dem Jungen, der angeblich ein Bote Godots ist, verbinden sie keine allzu große Hoffnung.
Auch im Parkett stellt sich die Aufgabe des Zeitvertreibs: Mit einer Spieldauer von zweieinviertel Stunden ist die Aufführung im Vergleich zu anderen Inszenierungen des Stücks verhältnismäßig lang. Doch dieser Zeitvertreib hat eine Dramaturgie: Zu Beginn sehen wir ein leises, sehr konzentriertes Stück Theater, das das Recklinghausener Publikum am Premierenabend gnadenlos niederhustet. Doch je länger der Abend dauert, desto mehr sehen wir einen temperamentvollen, zeitweise auch rohen „Godot“. Da ergehen sich Finzi und Koch in den wundersamsten Verrenkungen zum Zwecke der körperlichen Ertüchtigung oder der Bekämpfung der Langeweile, da wird auch mal gesungen, gebrüllt und geschlagen (kurzzeitig beschleicht den Zuschauer gar das Gefühl, als könnte zwischen Wladimir und Estragon das gleiche Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis bestehen wie zwischen Pozzo und Lucky), da wird auch schon mal Tennis gespielt oder auf dem Pferd geritten - selbstverständlich auch das ohne Requisiten, also ohne Zossen, Ball und Schläger.
Je mehr Fisimatenten Wladimir und Estragon auf der Bühne machen, desto mehr nimmt das Publikum den komödiantischen Aspekt der Aufführung wahr. Koch und Finzi schlagen grandiose Funken aus ihrer Schauspielkunst. Der schauspielerische Höhepunkt der Inszenierung aber gehört Andreas Döhler als Lucky. Als er von Pozzo, Wladimir und Estragon zum Denken aufgefordert wird, sondert er wie ein aufgedrehter Dilldopp ein geradezu apokalyptisches Durcheinander von Text ab, von Hockey zu Lande und zu Wasser und Tennis in Oldenburg, von Penicillin und Surrogaten in der Luft, der Abschaffung des Stuhlgangs und der Existenz eines persönlichen Gottes mit weißem Bart sowie den unvollendeten Forschungen von Testu und Conard. Das alles steht bei Beckett original im Text, aber selten haben wir es mit solcher Intensität in solch virtuosen Wirbeln vorgetragen gesehen. Wir ahnen jedenfalls, warum Panteleev und seine Protagonisten auf das Bild mit dem Luft-Tennis gekommen sind…
Döhler bekommt für seinen grandiosen Monolog verdienten Szenenapplaus und manch amüsierte Reaktionen. Doch dieser Lucky ist ansonsten eine berührende Figur; mit resignierter Leidensmiene folgt er der Aufführung zum Tanz, entsetzlich wirken seine Unterjochung und seine menschenunwürdige Erniedrigung durch Pozzo. Pozzo wird in vielen Stück-Interpretationen mit einem Kapo im Konzentrationslager verglichen. Christian Grashof gibt ihn dagegen zumindest bei seinem ersten Auftritt wie einen arroganten, aber etwas biederen Wirtschaftsboss, ein bisschen selbstverliebt, ein bisschen spießig, aber sich über alle Maßen wichtig machend. Er ist die Art von Chef, die in unseren Unternehmen zwar selten wird, aber immer noch nicht ganz ausgestorben ist: der Vorgesetzte, der sein Selbstwertgefühl aus der Erniedrigung seiner Mitarbeiter gewinnt und damit noch angibt wie ein Sack Sülze. Doch bereits in seiner ersten Szene wirkt er überfordert wie ein Manager kurz vor dem Burnout: Geschickt deutet die Inszenierung hier bereits seine Entwicklung zum kraftlosen, blinden und lahmen Greis beim zweiten Auftritt an. Vielleicht ist er eben doch ein Kapo, der den Lagerleitern irgendwann lästig geworden ist.
Während Wladimir und Estragon ihr vermutlich lebenslanges Warten also mit einer gewissen Gelassenheit und Routine abwickeln, wirken die Auftritte von Pozzo und Lucky tragisch und grausam. Auch in der Konversation zwischen Wladimir und Lucky aber wechselt die Stimmung; bei aller gelegentlichen komödiantischen Grundierung gibt es unzählige Vergeblichkeitsmetaphern. Panteleevs Inszenierung ist weniger unterhaltsam und komödiantisch als Matthias Hartmanns heitere, ungeheuer kurzweilige Inszenierung am Schauspielhaus Bochum im Jahre 2001 und erheblich weniger engführend in der Interpretation als Thomas Dannemanns überzeugende Deutung des Stücks als Holocaust-Drama im Schauspiel Köln im Jahre 2011. Beide Aufführungen haben es dem Zuschauer leichter gemacht, diesen Prototypen des Absurden Theaters zu verstehen. Bei Panteleev liegt der deutlichste Interpretationsansatz in der Notwendigkeit, die Zeit totzuschlagen - und sich damit abzufinden, dass dies der einzige Lebenszweck ist. Es herrscht Stillstand, und Wladimir und Estragon leiden nur noch peripher darunter - sie haben es im Grunde ihrer Seele längst akzeptiert. Wir Zuschauer strecken schon mal das Knie oder den Rücken angesichts von 135 Minuten pausenloser Spieldauer - aber wirklich leiden tun auch wir nicht. Denn die Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Deutschen Theater Berlin bietet grandioses Schauspielertheater.