Übrigens …

Die weiße Insel im Asphalt- Festival Düsseldorf

Professor Börne fliegt zum Pol

An Fridtjof Nansen erinnert man sich. Im Jahre 1893 brach er an Bord der Fram zu einer Nordpol-Expedition auf. Mit Hilfe der Eisdrift hoffte er, im Packeis eingeschlossen, dem Pol so nahe zu kommen, dass er mit seiner Mannschaft das Ziel per pedes erreichen könnte. Er scheiterte, doch der Norweger und sein Team zählen zu den Helden unter den großen Entdeckern unserer Erde. Seine Expedition gilt als Meilenstein für die Gewinnung meteorologischer, ozeanographischer und allgemeinwissenschaftlicher Erkenntnisse über die Region. Unter anderem vermochte sie Henrik Mohns Theorie der transpolaren Driftströmung zu bestätigen.

Wer aber kennt heute noch den Oberingenieur Salomon August Andrée?  Vielleicht die Schweden, die der Vorsprung des Nachbarn Norwegen auf dem Gebiet der Polarforschung schmerzte. Andrée wurde zum Hoffnungsträger einer Nation, als er in den Jahren 1896 und 1897 zwei Versuche unternahm, den Nordpol mittels eines Heißluftballons zu erreichen. Mit Hilfe von selbst erfundenen Schleppleinen glaubte er, den Ballon steuerbar und bis zu einem gewissen Grade unabhängig vom Wind gemacht zu haben. Der erste Versuch scheiterte kläglich; bei der zweiten Expedition im Jahre 1897 gingen schon beim Start eine große Anzahl der Schleppleinen verloren und der Korb landete vorübergehend im Wasser. Nach weniger als drei Tagen setzte der immer wieder über den Boden holpernde Ballon endgültig im Eis auf. Nur knapp ein Drittel der geplanten Strecke war bewältigt. „Problemlose Landung“, kommentierte der unerschütterliche Andrée in seinem Tagebuch das Desaster. Der Expeditionsleiter und seine beiden Begleiter, der Ingenieur Knut Frenkel und der junge Fotograf Nils Strindberg (tatsächlich: ein Neffe von August!), setzten den Weg zu Fuß fort. Auch sie fanden leider Nansens Erfahrungen mit der Driftströmung bestätigt: Sie wanderten nach Norden, doch in viel schnellerem Tempo trieb das Eis gen Süden. Keiner der drei überlebte die Expedition.

Liest man heute Berichte über die Expedition, so erscheint diese wie eine Mischung aus Abenteuerroman, Don Quichotte und Schildbürgerstreich. Mit tragischem Ausgang allerdings. Eine ideale Vorlage für das im Jahre 2012 gegründete Theaterkollektiv Subbotnik, das seine Geschichten stets mit viel Musik, ein bisschen Choreografie und eigenwilligen, so ironischen wie ihren Protagonisten zugewandten Texten erzählt. Wie so oft, liegt über Subbotniks Aufführung ein Lächeln. Und doch weiß die Truppe, wann dieses Lächeln in Melancholie zu kippen hat. Großartig nutzt sie die Vorlage einer zutiefst tragischen Geschichte zu einem lange Zeit amüsanten, beschwingten Meisterwerk der Fabulierkunst, in dem wir beiläufig manches über den Zeitgeist der Entdeckerjahre erfahren. Wir erleben einen Abgesang auf eine Generation von Helden, die sich mit Naivität und ungenügender Vorbereitung, aber voller Enthusiasmus und (auch National-)Stolz in Abenteuer stürzten - im wahrsten Sinne des Wortes ohne Netz und doppelten Boden. Das bittere Ende der Forscher nehmen wir nicht mit Schmerz, sondern mit Melancholie wahr.

 Drei weiß geschminkte Herren mit schwarzem Frack und Fliege, die sich bald als Salomon Andrée, Knut Frenkel und Nils Strindberg erweisen, stehen auf der Bühne und begrüßen uns mit schwedischen Liedern im Stile der 20er Jahre. Kornelius Heidebrecht, Martin Kloepfer und Oleg Zhukov haben sich für diese Produktion musikalische Verstärkung durch Henning Beckmann (Posaune) und Daniel Brandl (Cello) geholt, und die fünf schaffen zu Beginn eine wunderbar leichte, selbstironische Atmosphäre. Kloepfer als Expeditionsleiter Andrée gibt eine perfekte Bewerbung als Abwesenheitsvertreter von Jan Josef Liefers in seiner Rolle als Professor Börne im Münster-Tatort ab. „Die Aufgabe ist so schwer, dass ich von einer Erledigung nicht absehen kann. Wir werden den Pol erobern. Für Schweden!“      

Ein wenig snobistisch, ungeheuer selbstverliebt und mit hochnäsiger Besserwisserei präsentiert er sein Projekt und pariert alle Zweifel an der fragwürdigen Unternehmung mit typisch Börne’schem lakonisch-überheblichem Zynismus: „Was passiert mit Ingenieuren, die ins Wasser fallen?“ - „Ingenieure, die ins Wasser fallen, ertrinken.“ Tatsächlich führen heutige Experten der Polar- oder Ballonfahrt Andrées krachende Fehlplanungen und  Fehlkonstruktionen auf eine Art kognitive Dissonanz zurück - eine krasse Selbstüberschätzung, die zur Betriebsblindheit führte. Frenkel, gespielt von dem Musiker Kornelius Heidebrecht, erkennt intuitiv das Risiko, das in Andrées Charakter steckt: Er sieht „das Vibrieren der Augen“, das „Oszillierende im Blick“. Was er nicht ahnt: Das ist nicht nur Unruhe, Nervosität oder innere Unsicherheit: Das sind Andeutungen einer veritablen Sehschwäche. Andrée wird beim Großen Marsch über das Eis als erster der drei schneeblind werden. Und Strindberg, auch historisch ein völlig untrainierter junger Mann, der komplett ungeeignet für körperlich herausfordernde Abenteuer ist, sinniert vor dem Start: „Die Menschen vermeiden Gefahren, indem sie zu Hause bleiben.“ - Letztlich aber sind es die beiden Begleiter, die schließlich auf den Start drängen, während dem Oberingenieur im letzten Moment Bedenken kommen ...

 Es folgt: der egressus praecox. Schnell müssen die Forscher sich der Aussichtslosigkeit ihrer Lage bewusst gewesen sein, doch Andrées Professor-Börne-Mentalität macht ihn zur tragischen Figur. Bis zuletzt sind seine Tagebucheintragungen von einem realitätsfernen Zweckoptimismus. Frenkel dagegen schildert die Gemütslage der auf der Eisscholle sitzenden Forscher gnadenlos realistisch. Eindringlich wirkt der einfache, sprachlich reduzierte Text: „Die Welt scheint unglaublich klein und begrenzt zu sein. Leider wissen wir, dass sie unglaublich groß ist.“

 Strindberg, der junge, untrainierte Fotograf, von dem wunderbare Aufnahmen der Expedition gerettet wurden, ist der erste, der stirbt. Auch die beiden anderen überleben nicht. Sanft begräbt die Aufführung ihre Protagonisten wie unter der wärmenden Decke ewigen Schnees. Erst 33 Jahre, nachdem Ballon und Forscher verschollen waren, stieß die Besatzung des norwegischen Robbenfängers Bratvaag auf das polare Endlager des Forscherteams auf Kvitøya - der „Weißen Insel“. Erstaunlich viele Überreste der Expedition waren noch gut erhalten oder zumindest in restaurierbarem Zustand, darunter das Tagebuch von Salomon Andrée, aus dem die Subbotniks zitieren.

 Die Menschen vermeiden Gefahren, indem sie zu Hause bleiben. Doch sie schreiben Geschichte, indem sie Wagnisse eingehen.