Der große Zirkus des Doktor Faust
Das größte Meisterstück deutschsprachiger Dramenkunst ganz ohne Sprache - geht das? Und wie: Rainer König, der spillerige Mann mit über 30 Jahren Clown- und Pantomimenerfahrung, führt es uns vor. Ganz allein, im Schnelldurchgang. Nichts Wesentliches fehlt, fast alles erkennen wir, und nach fünf Minuten ist die Angelegenheit erledigt. Der Clown hat das Buch des großen Meisters schnell auf seine Handlungs-Essenz reduziert und seine Kollegen überzeugt: Das müssen wir spielen. Anders wär nämlich schlecht: Dann könnten wir jetzt nach Hause gehen. Und dürften uns nicht mal beschweren, dass der Anspruch des Abends nicht eingelöst worden wäre …
Rainer König, der unsere Herzen im Sturm erobert hat, tritt nun ins Glied zurück. Was zu behaupten allerdings der Blasphemie nahe kommt: Denn er spielt nun Gott den Herrn. Einen Gott mit wippendem Heiligenschein auf lockigem Haupt. Einen Gott, der zum Wesen eines Clowns passt: sympathisch, wohlmeinend, doch leicht überfordert mit dem Management seiner Aufgaben. Auch die Darsteller des Faust und des Mephisto sind veritable Stars der Szene: Wolfram von Bodecker (Faust) und Alexander Neander (Mephisto) haben Anfang der 90er Jahre gemeinsam eine Pantomimen-Ausbildung bei Marcel Marceau an der Ècole Nationale de Mimodrame Paris absolviert und agierten als persönliche Assistenten respektive tricktechnische Berater des großen Meisters - prominenter geht’s nimmer.
Theatertricks, Akrobatik und Jonglage der Truppe vom Theaterzirkus Dresden sind hinreißend. Mephisto spielt mit einer Faust-Marionette - dass die ebenso wie später vorübergehend die Figur des Faust an den ollen Goethe erinnert, verwundert nicht: Der Dichterfürst war ja genau so ein eitler allwissender Forscher, der bis ins hohe Alter seinen Testosteronspiegel beim Anblick einer jungen schönen Maid nicht kontrollieren konnte, wie seine wichtigste Dramenfigur. Jetzt aber sitzt Faust aber erstmal auf Stapeln von Büchern, der alles dominierenden Metapher dieser Inszenierung. Habe nun ach … jaja: Medizin, Juristerei, Biologie - wir entdecken sie alle, und leider nun auch Theologie, was vermutlich erst den zerstörerischen Ehrgeiz des Mephisto herausgefordert hat. Ernsthaftigkeit und Überdruss des Wissenschaftlers äußern sich in dessen Muffigkeit und Überheblichkeit; sie kontrastieren zum kindischen, dem Ballspiel und den Schmetterlingen zugeneigten Wagner. Der spielt plötzlich mit nem Hund - weiß der Teufel, wie Mephisto als schwarzer Pudel in den Raum gekommen ist: Der Rezensent hat’s nicht bemerkt. Wunderbar dann der Verkauf von Fausts Seele, dargestellt mittels einer Puppe in sündhaft rotem Tuch: Hurra, die Seele brennt! Großartig auch der Effekt des - spät genossenen - Verjüngungstranks, nach dessen Einnahme sich der einstmals muffige alte Professor in einen Gigolo von der Strada del Sole verwandelt.
Vor der Pause sind es insbesondere die burlesken Szenen, die ausgewalzt werden; Szenen aus Auerbachs Keller zum Beispiel. Schließlich befinden wir uns im Zirkus, nicht im bildungsbürgerlichen Theater. Allerdings in einem Zirkus, der mit bildungsbürgerlichem Hintergrund doppelt so viel Spaß macht. So viel lautes und spontanes Gelächter gab es selten beim „Faust“, doch zunehmend schleichen sich auch poetische Passagen ein, Laterna Magica Momente gar, und immer häufiger gibt es auch bedrohliche Szenen: Nicht der spätere Gretchen-Schänder Faust hat pädophile Gelüste - die Frau seiner Träume wirkt durchaus wie ein ausgewachsenes Vollweib. Nein, Mephisto, wenn er mit den Studenten anbändelt, scheint der viel gefährlichere Kinderschänder zu sein.
Nach der Pause nehmen, auch wenn sich die clowneske, zirzensische Spielweise mit ihrer hochexpressiven Gestik und Symbolik fortsetzt, die dunklen ebenso wie die poetischen Szenen zu. Nun liegt der Schwerpunkt auf der Gretchen-Geschichte. Es beginnt, so scheint es, mit Greta im Bade, so unschuldig wie topless. Die Wände der Duschkabine sind die Einbandseiten der Bibel. Sehr süß, sehr ironisch wird die Szene des Anbändelns von Faust mit seiner Grete gespielt, deren Kammer - sie hält’s halt mit der Religion - mit der Verkündigungsgeschichte in lateinischer Sprache tapeziert ist. Galant benimmt sich Faust auch gegenüber der drallen Frau Marthe. Kati Grasse gibt Gretchens Nachbarin als ordinäre, lüstern-versoffene Schrapnell, die selbst dem Teufel das Gruseln beibringt - le pauvre Méphiste, der mit der Dame flirten muss, macht ein Gesicht als sei sie eine nach Schwefel stinkende Ausgeburt der Hölle. Wir aber bemerken währenddessen: Die Greta im Bade, das war gar nicht das Gretchen, das den Faust bald zum Vater machen wird. Die richtige Grete nämlich hat schon früh einen irren Blick und könnte möglicherweise hinter der geschminkten Fassade ähnlich verlebt sein wie Doktor F. vor dem Verjüngungstrunk. Die blonde, weiß gekleidete Sängerin und Badenymphe dagegen ist so etwas wie ihre idealisierte Doppelgängerin, das hübsche, reine ewig Weibliche, das uns hinanzieht.
Das choreographische Element der Inszenierung tritt gegen Ende immer stärker in den Vordergrund. Großartig die Fluchtszene Fausts und Mephistos, die von der hinreißenden, die Aufführung maßgeblich prägenden Musik (Komposition Michael Kaden und Martin von Allmen) durch dunkle, spannungsvolle Trommelwirbel untermalt wird. Nun wird die große Bibel auf der Bühne zugeklappt und fortgetragen. Faust scheint zurückzubleiben in einer Welt ohne Gott, doch erneut erscheint die kleine Faust-Marionette und streckt Rainer König, dem Schöpfer und Erhalter mit dem wippenden Heiligenschein, verzweifelt die Hände entgegen - ein bewegendes Bild. Auch Grete, die ihr Kind gleich nach der Geburt auf offener Bühne erschlägt, versucht später verzweifelt, ihre zum Himmel erhobenen Hände reinzuwaschen. Mephisto aber tritt als falscher Pfarrer auf und fesselt diese Hände. Erbarmungswürdig ist das Bild der Gefängnis-Insassen. Und doch taumelt die Inszenierung zwischen all den tollen Bildern nun ein bisschen unschlüssig suchend ihrem Ende entgegen.
Da wir aber im Zirkus sind und nicht in der Tragödie, endet die Aufführung in Harmonie - in einem Bild, das zu den Volkstheater-Elementen der Inszenierung passt und doch nicht platt und bieder wirkt: Gretchen wird wieder aufgenommen in die Dorfgemeinschaft; eng drängen sich die Figuren der Geschichte um die junge Frau und feiern diskutierend ihre Rückkehr. Wir dagegen feiern einen Zirkus-Faust, der bei allem Klamauk die Tragik des Werks nicht unterschlägt und von großem Unterhaltungswert ist.