Der nackte Wahnsinn
Die Familie ist eine nach wie vor als quasi heilig erklärte Institution wie die Ehe auch. Beide Lebensformen sind freilich seit jeher gefährdet. Im Laufe der Zeit haben sich zusätzlich andere Konstellationen entwickelt, Goethes Stella beispielsweise propagiert die Dreierbeziehung. In den „wilden“ Jahren des 20. Jahrhunderts vervielfachten sich ungewohnte Modelle bis hin zur Kommune u.a. Heute gelten selbst gleichgeschlechtliche Partnerschaften als sanktioniert, es bildeten sich sogenannte Patchwork-Familien.
Eine solche schildert Alltag & Ekstase von Rebekka Kricheldorf (*1974). Den Stückuntertitel Sittenbild unterschlägt der Programmzettel des Freien Werkstatt Theaters, freilich ohne Schaden. Vorgeführt wird eine Vier-Köpfe-Gemeinschaft, bestehend aus den Eltern Sigrun und Günther, beide voneinander ebenso getrennt wie der gemeinsame Sohn Janne von seiner Katja. Er kann nicht mehr mit ihr, sie nicht mehr mit ihm. So spießt sie sich einen Lover nach dem anderen auf. Trotzdem bleibt sie Janne wie zwanghaft verbunden, nicht zuletzt durch das Ungetüm der kleinen Tochter River, die in der Inszenierung von PiaMaria Gehle (ehemals Intendantin des Keller-Theaters) allerdings nicht erscheint, aber auch nicht erscheinen muss. Die Uraufführung am Deutschen Theater Berlin im Januar zog aus der Präsenz der Göre dem Vernehmen nach allerdings Nutzen. Im Mai war die Komödie dann bei den Mühlheimer Theatertagen zu sehen. Die FWT-Produktion ist vermutlich die überhaupt erst zweite. Kompliment also an den so rasch handelnden Dramaturgen Gerhard Seidel.
Der Familien-Clan, so wie ihn Rebekka Kricheldorf schildert, beobachtet sich mit Röntgenaugen und -ohren, kritisiert mit psychologisch hochtrabenden Worten das Tun und Lassen des jeweils anderen. Da gibt es den Öko-Tick Sigruns, die ethnologischen Fantastereien Günthers, Jannes Experimentieren als Ein-Mann-Firma, Katjas erotisches Hin und Her. Das ist alles so nervig: „Muss denn jeder Lebensmoment unter Zeugen stattfinden? Muss den alles, alles, alles geteilt, aufgefangen, analysiert und besprochen werden?“ Aber so richtig los kommt man voneinander nicht. Und dann geistert durch das ganze Tohuwabohu auch noch der skurrile Japaner Takeshi, welche die Gefühle seiner (vor allem männlichen) Gastgeber zusätzlich in Aufregung versetzt. Doch „er sei nicht schwul, sondern ein internationaler Geschäftsmann“ mit Sinn für Abwechslung im Lebensgenuss. Vom Alltag in die Ekstase also, ohne Skrupel.
Rebekka Kricheldorfs Blick auf die heutige Gesellschaft ist ihren eigenen Worten zufolge „überzogen und komödiantisch überspitzt“, was von der Berliner Premierenkritik nicht durchwegs goutiert wurde. An einer Stelle war von einer „unerheblichen Pointen- und Klischeejonglage“ zu Rede. Das muss man mitnichten so sehen, und PiaMaria Gehle tut es mit Sicherheit nicht. Ihre Inszenierung gibt dem Affen also reichlich Zucker. Sogar im Wortsinn, denn die Eingangssequenz zitiert den Beginn des Films 2001 mit Affen und Zarathustra - Musik. Vielleicht reflektiert dieser Bildeinfall auch ein Gedicht, welches die Autorin in ihrer Zeit als Schülerin einer Waldorf-Schule ihres Geburtsortes Freiburg heimlich unter ihrem Schreibpult verfasste: „Es lebte einst, ich weiß nicht wo, ein Mensch, der hieß Gorilla-Joe. Er war nicht schön, er war nicht klug, doch Haare hatte er genug. Die hingen tief ihm ins Gesicht, so sah er nie das Sonnenlicht.“ Ähnlichkeiten mit menschlichen Realfiguren bei diesen Zeilen sind zweifelsohne beabsichtigt.
PiaMaria Gehle greift jede Gelegenheit zu szenischer Eruption auf und lässt ihre Darsteller mit ironisch unterfütterter Wirbelwindigkeit über die lediglich mit einem großen Sofa ausgestatteten Szene (Thomas Unthan) fegen. So ausschweifend komödiantisch hat man Bettina Muckenhaupt (Sigrun), Fiona Metscher (Katja), Thomas Wenzel (Günther) und Valentin Stroh (Janne) kaum je gesehen. Die teilweise grotesken Sätze gehen ihnen sprudelnd von den Lippen. Kein einziger Versprecher. Zuletzt gibt es noch einen kleinen, aber markanten Auftritt von Ingrid Berzau, bis vor einiger Zeit mit Dieter Scholz Leiterin des FWT, welches jetzt in den Händen von Inken Kautter und Gerhard Seidel liegt.