Keine Erde ohne Qual
Erst vor zwei Jahren gegründet, verfügt das Köln-Düsseldorfer Theaterkollektiv Subbotnik bereits über eine erkleckliche Fangemeinde. Das ist kein Wunder: Denn die Subbotniki sind begnadete Geschichtenerzähler. Mal erfinden sie eigene kleine Stories, mal bearbeiten sie Literaturvorlagen ,Robinson Crusoe, mal finden sie fast vergessene Heldensagen in der Geschichte ,Die weiße Insel. Immer aber präsentieren sie diese in einer ganz eigenen Mischung aus Humor und Melancholie, aus Sprache, meist selbst komponierter Livemusik und sparsam eigesetzten Performance-Elementen. Sparsam - denn unspektakulär soll es wirken, ganz leicht soll es daher kommen. Und doch ahnt man, wieviel Arbeit hinter all diesen Eigenproduktionen steckt.
Zum 15. Geburtstag des Düsseldorfer Forums Freies Theater nehmen uns die Subbotniki mit auf eine Traumreise: Sie lassen sich von Dostojewskis Traum eines lächerlichen Menschen beflügeln und finden für die kurze Erzählung wie immer eigenwillige Bilder. Der Plot der stark philosophisch grundierten Novelle ist schnell erzählt: Der Ich-Erzähler, ein junger Großstädter, fühlt sich zum Außenseiter abgestempelt, leidet an einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung und ist, „ich weiß es, ein lächerlicher Mensch.“ Alles sei ihm einerlei, behauptet er, nichts wecke mehr sein Interesse - doch vor allem leidet er wohl an der moralischen Unvollkommenheit der Welt. Er beschließt, sich zu erschießen, schlägt kurz vor der Umsetzung dieses Beschlusses ein kleines Mädchen und ist vollkommen verblüfft darüber, dass er offenbar doch noch zu Empfindungen wie Ärger, Reue und Mitleid fähig ist. Er schläft ein und träumt von einer Reise durch den Weltraum in ein anderes Sonnensystem, zu einer anderen Erde, die der unseren aufs Haar gleicht, auf der die Bewohner jedoch in paradiesischer Eintracht und Harmonie leben. Schwelgerisch beschreibt der Erzähler diese ideale Welt, um dann entsetzt eine Art Schöpfungsgeschichte des Bösen zu erleben: Im Zeitraffer erlebt die Gesellschaft den Verfall des Paradieses und die Entstehung all jener Laster und bösen Eigenschaften, die eine moderne Gesellschaft ausmachen: Das beginnt ganz biblisch mit Scham und Lust und setzt sich fort über Geiz und Gier, Lüge und die böse Wissenschaft (!), Sklaverei und Machtstreben und Hochmut resultiert in Leid und Krieg. Im Traum gibt sich der Ich-Erzähler die Schuld an der Zersetzung der idealen Gesellschaft - den „Virus des Menschseins“ nennen die Subbotniki das, woran diese schließlich erkrankt. Der Erzähler erwacht - und schiebt den Revolver nunmehr ganz weit weg: Irritiert sieht der aufgeklärte Leser von heute seine Wandlung zum ekstatischen „Verkünder“ und fürchtet die christlichen Fundamentalisten - Dostojewski aber wandelte sich in seinem Leben tatsächlich vom einstigen Früh-Sozialisten zum spielsüchtigen Christen und Jesus-Jünger.
Das leichte Störgefühl, das zumindest den Schreiber dieser Zeilen bei der Lektüre ereilte, stellt sich beim Besuch der Subbotnik-Aufführung nicht ein: Die grenzdebilen, verklärten Gesichter der engelsgleichen Paradiesbewohner sorgen für ironische Distanz und lassen uns nachvollziehen, dass der „lächerliche Mensch“ sich ein Leben ohne Leiden nicht wünschen mag: „Ich will keine neue Erde ohne Qual!“ - Recht so - wobei man es sich durchaus auch qualvoll vorstellen kann, auf einer neuen Erde zu wohnen, auf der lauter glückliche Engel Aloysii auf einer Wolke aussehen, als würden sie jeden Moment in ein juchendes Halleluja ausbrechen ...
Distanz baut die Aufführung von Anfang an auf. Niemals verrät sie jedoch den zugrunde liegenden literarischen Text. Olaf Helbing spielt den lächerlichen Menschen - sein Krankheitsbild, die veränderte Wahrnehmung seiner Umwelt und seiner selbst wird von Beginn an durch die sinnvolle Kürzung des Texts und die Mimik des Schauspielers deutlich. Verstärkt wird dieser Eindruck später durch seine Kostümierung als unselbständiges Riesen-Baby, durch die irren, staunenden, verzweifelten Augen des Träumenden. Aber dieser unempfindsame Empfindsame, dieser lebensmüde Suchende hat auch eine gespaltene Persönlichkeit - Andreas Maier gleicht Olaf Helbing wie ein Ei dem anderen und übernimmt immer wieder kurze Erzähler-Passagen. Auch Oleg Zhukov, eine der zahlreichen undefinierten Nebenfiguren in dieser Aufführung, hat einen Doppelgänger. Denn die Welt ist so verrückt wie der Protagonist.
Oder sie wirkt verrückt durch die Augen des lächerlichen Menschen. Denn eigentlich ist sie zu Beginn ganz geordnet: Es sind die typischen liebevoll-skurrilen Subbotnik-Bilder, mit denen die Aufführung die gar nicht so furchtbare Gesellschaft zunächst charakterisiert: in krumm und schief von den Schauspielern selbst gebastelten Pappkartons, die die Häuser der Stadt darstellen, arbeitet eine Bügelfrau (die auch wunderbar das Radio der 2000er Jahre macht), ein Kunsthandwerker, ein Schuhputzer und andere mehr. Es ist eine wahre Idylle - es ist die Welt, von der der lächerliche Mensch träumt. Teile der Geschichte erzählt Andreas Maier als Wunschkonzert-Anrufer bei „Melodien für Millionen“. Mit professioneller Anteilnahme erkundigt sich Isabella Bartdorff als Moderatorin (wahlweise Büglerin) nach der Reaktion der Familie auf die Geisteskrankheit, um spätestens bei der dritten Antwort gar nicht mehr zuzuhören: Sie ist halt doch nicht so in Ordnung, die Gesellschaft. Und was der kranke lächerliche Mensch in Subbotniks stark assoziativ arbeitender Inszenierung davon wahrnimmt, mögen Traumsequenzen sein oder Halluzinationen, vielleicht sind sie aber auch zutreffende Metaphern für unsere Welt: die schrägsten Lieder der letzten 200 Jahre, skurrile Kanons, bescheuerte Songs einer abgefahrenen Kochshow und Reflexionen über die Wichtigkeit der Wahrnehmung belgischer Autobahnen aus dem All - in das der Mensch ja später in seinem Traum entfliehen wird.
Olaf Helbing aber lebt - zumindest vor seinem Besuch im Paradies - in seiner eigenen Welt, fast autistisch und unbeeindruckt von dem kurmeligen Geschehen um ihn herum. Angesichts der (ungeheuer witzigen!) musikalischen Geschmacksverirrungen um ihn herum singt sein Doppelgänger allerdings auch mal einen Teil der Geschichte. Großartig spielt insbesondere Helbing den Verrückten - und ebenso großartig spielt das erweiterte Subbotnik-Ensemble die verrückte Welt um ihn herum, so wie wir das inzwischen von der Gruppe kennen: mit musikalischen und musikkabarettistischen Kabinettstückchen, mit genialischen Albernheiten und mit sanftmütiger Trauer. Und mehr denn je erratisch, manchmal mystisch - und immer skurril. Die Subbotniki sind eben nicht nur tolle Geschichten-Erzähler, sie sind auch Meisterköche: nicht in der Kochshow, sondern beim kreativen Mischen unterschiedlichster Zutaten zu einer gelungen Performance.