Spannungsverhältnisse
Sechs Schauspieler sitzen in weißen Designerklamotten mit sehr hellen Blondhaarperücken an einem weißen Tisch und trinken Rotwein. Die künstlichen Wohlstandsalbinos spielen Odysseus und seine Mannschaft. Vom Esstisch aus, dem Hort bürgerlicher Heimeligkeit und Repräsentation, beschreiten und beschreiben sie – die Führungsrolle wechselt stetig – die zwanzigjährige Irrreise von Troja nach Ithaka. Sie sprechen Homers, von Dietrich Ebner mal sachlich, mal poetisch übersetzte Verse meistens chorisch. Sehr klar, sehr präzise.
Widerpart des Esstisches ist ein weißes Haus, das nach Bedarf hinein- und hinauskreiselt. Hier finden die berühmten Abenteuer statt, von Kirke bis Nausikaa, vom Kyklopen bis zur Tötung der Freier. Widerpart der Schauspieler sind sechs Angehörige der Sinti und Roma. Sie spielen die Fremden, die anderen, natürlich – möchte man sagen – aufgeladen durch Zigeuner-, Orient- und Migrantenklischees. Je länger der Abend dauert, unterbrechen sie die Handlung mit oft erschütternden Erzählungen und Reflexionen ihrer Lebenswirklichkeit, sprechen von offenbar unausrottbaren Ressentiments nicht nur der Deutschen, von Benachteiligungen, Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, die das Bild einer großen Ausweglosigkeit entstehen lassen, von historisch determinierter Heimatlosigkeit und auch von existenziellen Problemen innerhalb der eigenen Community.
Die sechs machen das extrem gut. Sie sind keine Schauspieler, haben aber für die Produktion sehr gut Bühnensprechen gelernt. Es gelingt ihnen, dem Publikum mit ihrer Wut und ihren Ängsten geradezu ins Gesicht zu springen. Man versteht warum sie tun, was sie tun, auch und gerade auf dieser Bühne. Homer dagegen rückt im Laufe der Vorstellung fühlbar in den Hintergrund. Das liegt daran, dass die professionellen Schauspieler in ihren Kunstoutfits, in der chorischen Disziplin fast veschwinden. Und daran, dass der Regisseur den Text einerseits radikal interpretiert – als Initiation des Helden für eine Rückkehr ins Bürgerliche -, andererseits radikal modern inszeniert, für alle 14 gespielten Abenteuer heutige Entsprechungen sucht, die zudem das Spannungsfeld Mitteleuropa – Sinti und Roma bebildern und belauschen. Da stapeln sich die Klischees irgendwann ohne Erkenntnisgewinn, erschöpfen sich etwa die Darstellungsmuster für junge Frauen aus Südosteuropa. Und der Text verliert seine Poesie und sein Geheimnis.
Das Schwierigste: die Trennung. Bis auf zwei kurze Phasen zu Beginn des zweiten Teils und – wirklich toll – am Schluss, werden die Gruppen getrennt geführt, prallen nur in den „Abenteuern“ aufeinander, müssen sich nicht auf der Bühne zueinander verhalten. Diese Spannung, diese Interaktion fehlt ersatzlos. Ein Problem, dass viele Lösch-Produktionen haben und dass, relativ einsame Ausnahme, in „Rote Erde“, seiner letzten Essener Produktion, sowohl dramaturgisch als auch spielerisch überwunden werden konnte.
In der „Odyssee“ gibt es viele schöne Momente, nicht nur am Schluss. Der Zyklop Polyphem etwa als fetter, verwahrloster, hoffnungsloser Arbeitsloser, der nur in Ruhe gelassen werden will, trifft ins Herz, sowohl in das des Texts als auch in das des Zuschauers. Der Enthusiasmus und die Energie der Laienschauspieler begeistern. Aber es fehlt eben was.