Cool. Böse. Souverän.
Ein Wiener Walzer eröffnet das Spiel. Nein, nicht ein Wiener Walzer - der Wiener Walzer. Der Donauwalzer. So wie Johann Strauß ihn geschrieben hat: zunächst etwas melodramatisch, langsam drehend, getragen. Dann immer schneller werdend, immer lauter. In dem Maße, in dem die Musik lauter wird, wird das Licht im Parkett heller. Gleißend, grell und gnadenlos leuchtet es den Zuschauerraum aus. Auf der Bühne tut sich währenddessen: nichts. Alle Schauspieler sind anwesend, doch sie dürfen nicht mal im Dunkeln munkeln.
Nicht wie üblich als zucker-, sondern als bittersüß empfindet die Musik, wer bereits von der Hinterhältigkeit, der geistigen Armut, aber auch der Tragik des Stück-Personals weiß. Der Donauwalzer bleibt das Leitmotiv in Michael Thalheimers Inszenierung der Geschichten aus dem Wiener Wald, mit denen das Deutsche Theater Berlin zum Spielzeitauftakt am Theater Gütersloh gastierte. Immer wieder schluchzen leise Geigen auf, verfremden mehr und mehr die Walzertakte. Erst nach zehn Minuten fällt das erste Wort. Es gehört einer Nebenfigur: Ladislaus Havlitschek. Einer Nebenfigur, die lange im Gedächtnis haften bleiben wird: Henning Vogt spielt den Fleischergesellen als ungehobelten, zynischen Grobian mit blutverschmierter Metzgerschürze - nicht nur menschenverachtend, sondern selber ein Vieh. Fleischermeister Oskar und sein Geselle Havlitschek, so unterschiedlich sie gezeichnet sind, sind bei Peter Moltzen und Henning Vogt ein Duo, das in jeder Horrorfilm-Persiflage seinen Platz finden würde.
„Dummes Luder“, zischt Havlitschek und meint Marianne, die einzige Sympathiefigur in Ödön von Horváths im Jahre 1931 uraufgeführten Volksstück. Die ist, wir erinnern uns, Herrn Havlitscheks Chef Oskar versprochen und läuft vor der Verlobung davon, indem sie sich dem Hallodri Alfred an den Hals wirft, der auch ein paar andere Pferdchen laufen hat - unter anderem auf der Rennbahn. Oskar hat diesen berühmten Satz, der uns frösteln und schaudern macht und in den Zitatenschatz manch unglücklich Verliebter eingegangen ist: „Du wirst meiner Liebe nicht entgehen.“ In dem bunten Gruselkabinett, das Horváths Personnage darstellt, ist der verklemmte, schmierige, selbstgerechte und bigotte Oskar vermutlich die Figur, aus der sich schauspielerisch am leichtesten Kapital schlagen lässt. Peter Moltzen aber ist in dieser Rolle an Virtuosität nicht zu übertreffen. Was für eine tolle kleine Rede hält er, als Marianne ihm den Laufpass gegeben hat: mit welcher Contenance, mit welcher Bosheit im Ausdruck und welchem Zischen in der Stimme. „Du entgehst mir nicht!“
Der untersetzte Witwer hat es nicht leicht gehabt in seinem bisherigen Leben: „Ich war auch nicht zu beneiden, man hat ihr die linke Brust wegoperiert“, beklagt er sich über manch entgangenen Lustgewinn im Zusammenleben mit seiner an Krebs verstorbenen Ex. Doch nun ist das Trauerjahr vorüber, der mit demonstrativer Demut getragene schwarze Anzug kann endlich in die Kleidersammlung. Die hübsche Marianne ist als neue erotische Versprechung und unterjochte Ehegattin auserkoren. Besser als Worte beschreiben stumme Szenen die beiden Charaktere: der zögerliche Kussversuch, bei dem Oskar ganz langsam den Kopf über seinen dicken Bauch hinausschiebt und es Marianne gelingt, zurückzuweichen, ohne dabei verletzend zu wirken. Ein meisterhaftes komödiantisches Kabinettstück gelingt Moltzen beim Versuch, die Bonbonniere für Marianne aus der Anzugstasche zu befördern und sie anschließend wieder in einen einem Geschenk angemessenen Zustand zurechtzufriemeln. Letzteres misslingt nicht nur, sondern Marianne hat längst die Flucht ergriffen, so dass Oskar - traurig, aber gottergeben und mit unbewegtem Gesicht - erst einmal selbst eine Praline schlabbert. Hochnotkomisch und doch voller Tragik ist diese Szene; widerlich wirkt Oskar und doch auch bemitleidenswert. Der Schwiegervater in spe aber, der verknöcherte, reaktionäre Zauberkönig, kommentiert in typisch weanerischem Unterschicht-Machismo: „Kopf hoch, Daumen runter!“ Die Frau muss wissen, wer der Mann im Haus ist.
Thalheimer hat das Stück auf seine wesentlichen Korsettstangen reduziert (und gelegentlich durch aktualisierende Passagen angereichert), aber er nimmt sich jede Menge Zeit für solche Szenen. Und: Thalheimer, so oft ein mit heiligem Ernst zur Sache gehender Exerzitienmeister, zeigt in Szenen wie dieser Humor. Manchmal ist dieser Humor leicht, subtil und zugewandt, meist liegt er in einer beißenden Ironie wie sie Almut Zilcher als notgeile Trafikantin Valerie an den Tag legt. Zilcher gibt ihre Figur als mutmaßlich versoffene Schabracke, aber nicht ohne Reststolz. Sie weiß sehr wohl, was sie tut, als sie den allenfalls halbzackigen Jung-Nazi Erich als Tisch- und Bettgenossen einlädt - völlig illusionslos kauft sie sich mit ihm ein mediokres Sex-Spielzeug, ohne Aussicht auf echte Gefühle. So illusionslos verabschiedet sie auch Erichs Vorgänger Alfred, als der ihr von der jüngeren, hübscheren Marianne berichtet: „Das heißt dann wohl Trennung.“ Offen lassend, wie ernst gemeint dieser Vorschlag ist. Doch Alfred reagiert cool, böse und souverän. Mit kalter Selbstverständlichkeit. Doch Andreas Döhler zeichnet auch diesen Alfred keineswegs eindimensional: Auch er ist letztlich ein armer Kerl, nicht unwillig, sondern unfähig zum Tragen von Verantwortung.
Da das zwölfköpfige Ensemble bis in die kleinsten Nebenrollen hochkarätig besetzt ist, steht die Hauptperson des Stücks weniger im Vordergrund als wir dies von anderen Inszenierungen gewöhnt sind. Doch hat Katrin Wichmanns Marianne ihren zutiefst anrührenden Moment: Im Maxim, dem Nachtklub, in dem sie als barbusige Tänzerin auftritt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, steht sie im an Katrin Bracks und Dimiter Gotscheffs legendären Hamburger Tartuffe erinnernden Konfettiregen, im Angesicht der vom lüstern-intriganten Rittmeister in die Kaschemme gelockten Dorfgemeinschaft. Schräg und windschief singt sie das Volkslied, das in glücklicheren Tagen beim Picknick erklang: „Da draußen in der Wachau …“ Das ist herzergreifend - und keinen Moment kitschig. Selbst Trafikantin Valerie zeigt erstmals echte Gefühle des Mitleids und der Empörung.
Es sind typische Thalheimer-Auftritte, die der Regisseur choreografiert hat: Auf einem langen, geraden Strahl treten die Figuren aus dem dunklen Bühnenhintergrund hervor und absolvieren in verkrampfter Körperhaltung ihren Text - häufig ohne einander anzusehen. Bei seiner Emilia Galotti aus dem Jahre 2001 hatte Thalheimer diese Technik erstmals perfektioniert und - ebenfalls mit Hilfe eines wiederkehrenden bittersüßen musikalischen Motivs - einen schneidend scharfen, aber kalten und asketischen Abend geschaffen. In den Geschichten aus dem Wiener Wald sind diese Elemente wiederzuerkennen, aber Thalheimer ermöglicht auch Empathie mit den Figuren. Anstelle von kalter, aseptischer Beobachtung lässt er Lachen und Humor, Wut und Entsetzen, Mitleid und Abscheu zu. Erneut entwickelt die Aufführung ganz langsam einen Sog - diesmal einen Sog in den Horror, in den Grusel, in das Leben. Allerdings führt die formale Art der Personenführung in der Mitte der Aufführung zu Längen; vorübergehend stimmt der Rhythmus nicht. In diesen Passagen muss man sich an die Schauspieler halten: Vor allem Peter Moltzen als Oskar und Michael Gerber als Zauberkönig heben die Aufführung jederzeit auf Champions League Niveau.
Der Schluss ist so grandios wie der Beginn. Nach und nach haben sich die Schauspieler Pappmasken vor das Gesicht gezogen. Es sind die Symbole für die geistige und emotionale Beschränktheit der Figuren, aber von fern erinnert diese Vermummung mit ihren Augen-, Mund- und Nasenlöchern auch an die Zipfelmützen des Ku-Klux-Klans: an den alltäglichen kleinbürgerlichen Faschismus. Laut dröhnt der Walzer. Die Inszenierung ist wie die Reaktion von Alfred: Cool. Böse. Souverän.