Übrigens …

Dogville im Köln, Schauspiel

Höllenhund und Mafia-Gott

Endlich hat einer den gordischen Knoten durchschlagen. Eine ganze Spielzeit lang haben sich unterschiedlichste Regisseure und Bühnenbildner abgearbeitet an dem riesigen, theaterfeindlichen Raum des Depot 1 im Köln-Mülheimer Carlswerk. Bastian Kraft hat sich nun eines der berühmtesten Werke des Dogma-Filmers Lars von Trier vorgenommen, und man fragt sich verblüfft: War da mal was? Gab es je Schwierigkeiten mit dem Raum? Kann nicht sein…

Dogville ist ein Film, der wirkt wie ein Theaterstück von Brecht, V-Effekt und episches Theater inklusive. Von Trier arbeitet ohne Kulissen; der Grundriss von Dogville ist mit Kreide auf der Film-Bühne markiert. Diese minimalistische Ästhetik in einen Raum zu übertragen, der die Bemühungen der Schauspieler eine Spielzeit lang sowohl in gigantischen Kulissen als auch bei leerer Halle wirkungslos hatte verpuffen lassen, kann nur schief gehen, denkt man. Zumal Kraft Lars von Triers Film nicht nur inhaltlich, sondern auch in seiner reduzierten Ästhetik eng folgt. Auch er arbeitet nur mit wenigen Requisiten. Aber Kraft und sein Bühnenbildner Peter Baur erzielen einen fulminanten Effekt mit einer Verdopplung, oft sogar Verdreifachung der Bilder. Über die gesamte Spielfläche hat Baur einen riesigen, etwa im 45°-Winkel zur Bühne gekippten Spiegel gehängt, der an Katrin Bracks Meisterwerk für Luk Percevals Draußen vor der Tür am Thalia-Theater Hamburg erinnert und der das Geschehen wie in einem Rahmen zusammenfasst. So verstärkt die Perspektive den Laborcharakter des Plots und der Aufführung. Doch nur selten ist der Spiegel nur Spiegel: Er fungiert auch als Leinwand. Live produzierte Videobilder zeigen die Gesichter der handelnden Personen in Großaufnahme; Buchseiten, Lagepläne, Details der Ausstattung werden auf die Fläche projiziert respektive von ihr widergespiegelt. Häufig zeigt die Projektionsfläche hier die Bewegungen der Protagonisten, dort jedoch die fixen Spiegelungen einzelner Ausstattungsgegenstände. Die Dopplung der Bilder erweist sich als ungeheuer bereichernd: Das Verfahren lenkt die Blicke des Zuschauers und ermöglicht ihm gleichzeitig die Wahl zwischen der Gesamtsicht des Dorfes, dem Blick auf die interagierenden Figuren oder der genauen Beobachtung der Reaktion einzelner Charaktere. Zugegeben: Häufiger schauen wir auf den Film als auf die Bühne. Aber die einzelnen Charaktere sind uns nah; das Spiel der Schauspieler entwickelt Intensität.

Die Wirkung der Inszenierung beruht auf drei Komponenten: dem genialen Bühnenkonstrukt, der herausragenden Qualität der Schauspieler und dem beklemmenden, wenngleich parabelhaften Plot: Angeblich von Gangstern verfolgt, verschlägt es die junge Grace nach Dogville, in ein hinterwäldlerisches, abgelegenes Dorf in den Rocky Mountains, wo der Hund nicht begraben ist, sondern ziemlich aggressiv bellt. Tom Edison, ein Möchtegern-Schriftsteller, sorgt bei der skeptischen Bevölkerung dafür, dass man die von Gangstern und Polizei gesuchte Grace aufnimmt und versteckt. Womit den Hinterwäldlern Macht gegeben ist: Grace wird zunächst ausgegrenzt, dann ausgenutzt, dann provoziert, dann gequält, zur Prostitution gezwungen und vergewaltigt. Und schließlich von Tom, dem einzigen, der zu ihr gehalten hat, an den Gangsterboss verraten.

Und der entpuppt sich als Graces Vater. Martin Reinke sitzt in Köln mitten im Publikum, kahlgeschoren, mit Sonnenbrille - ein Mafiaboss. Arroganz wirft Grace ihm vor: die Arroganz zu richten und zu strafen. Doch gibt der Vater den Vorwurf zurück: Lange hat Grace trotz aller Erniedrigungen die Dorfbewohner verteidigt, ja: sogar lieb gewonnen. Und eben dies sei arrogant, sagt der Vater: Arroganz sei es, anderen zu verzeihen, Nachsicht zu zeigen, wenn sie sich nicht entwickeln. Grace beginnt zu begreifen, dass ihre Selbstlosigkeit, ihr Mitgefühl und ihre Nachsicht anmaßend waren, denn sie hat sich damit auf eine höhere Stufe gestellt als die selbstsüchtigen, moralisch verdorbenen Bewohner von Dogville. Wer die Macht habe, solche Verhältnisse zu ändern, habe die Pflicht, es zu tun - und zu strafen, doziert der Mafioso. So sehen wir nun in dem inzwischen das Auditorium reflektierenden Spiegel: Grace, sitzend zur Rechten des Vaters. Und wenn man sie fragt, wer wohl sterben muss, dann wird man sie sagen hören: „Alle!“ - „Zuerst die Kinder - und lasst die anderen zusehen!“ Sie nimmt die Knarre: Zwölf Schüsse für die zwölf Bewohner des Dorfs. Und das Schiff mit acht Segeln wird entschwinden mit ihr. Nur ist es hier eine dunkle Limousine …

Ja, es ist die Geschichte der Seeräuber-Jenny, die von Trier in seiner Geschichte mitdenkt. Aber Film und Aufführung haben nicht den Schwung der Dreigroschenoper, sondern den heiligen Ernst Brechtscher Lehrstücke. Viele Interpretationen sehen Grace als eine Art Christusfigur, die sich aufopfert für die Menschen, aber, als diese in ihrer selbstgefälligen Bigotterie verharren und die Schwachen und die Guten immer mehr ausnutzen, ganz alttestamentarisch die Ausrottung der Sünder betreibt. Dogville ist die Umkehrung der gottgewollten Welt - „Dog“ rückwärts gelesen ist „God“ - und so kommt Gottvater mit der Knarre, um die Menschen auszulöschen, die nicht nach seinem Willen leben. Von Trier hinterfragt das heutige christliche Leitbild von Toleranz und Vergebung; sein Gott ist ein strafender, seine Grace kehrt zurück ins Dorf wie Christus als Weltenrichter am Tag des Jüngsten Gerichts. Doch fürs Himmlische Gastmahl bleibt keiner mehr übrig. Das Weltbild, das von Trier in Dogville zu erkennen gibt, erscheint moralisch fragwürdig, aber die Art, wie der Filmemacher unseren Moralkodex in Frage stellt, ist in hohem Maße diskutabel.

Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss. Bastian Kraft nimmt sich viel Zeit, um seine Geschichte zu erzählen. Die 140minütige Aufführung hat nur wenige, allerdings wirkungsvolle Rhythmuswechsel; dass sich dadurch ein paar Längen einschleichen, sei jedoch geschenkt: Beim vierzig Minuten längeren Film war das nicht anders. Das perfekte Zusammenspiel von Video, Musik und Licht sowie die grandiosen Schauspieler ergänzen sich zu einer der dichtesten Aufführungen, die wir in der Intendanz Bachmann am Schauspiel Köln sahen. Besonders überzeugt Susanne Barth als zickige, hinterhältige und feige Nachbarin Ma Ginger, die auch nonverbal eine gefährliche Falschheit ausstrahlt. Ihre zuckersüße Freundlichkeit schlägt von einem Moment zum anderen in ein subtiles Mobbing um, das frösteln macht. Schon der allererste Auftritt von Katharina Schmalenberg als Grace schafft eine Atmosphäre der Bedrohung: Vor dem Dorf wird sie, gehetzt und verängstigt, als Flüchtling aufgegriffen. Noch sind die Geräusche des Gangster-Autos zu hören. Im weißen Fellmantel läuft Grace durch das ärmliche Dorf - schon das macht sie zur Außenseiterin. Schmalenberg wirkt herber als Nicole Kidman in von Triers Film, aber auch vielseitiger: Sie hat erschütternde Szenen, sie wirkt weich und liebenswürdig, rational und emotional - und ist zum Final Countdown von erbarmungsloser Kaltblütigkeit.

Tom Edison ist ihr als einziger Dorfbewohner zunächst in Sympathie, später in Liebe zugetan - und dann aus sexueller Not. Gerrit Jansen gibt ihn als einen blassen Missionar, verklemmt, verquast, verdruckst. Der Mann, der sich nicht traut, wird durch den sexuellen Überdruck immer unsympathischer. Konsequent und mit Mut zum anfänglichen Unterspielen baut Jansen seine Figur auf, so dass es logisch wirkt, dass ausgerechnet er Grace am Ende verraten wird. - Toms Vater ist nicht nur blind, sondern auch undurchsichtig: Pierre Siegenthaler macht aus dem ständig vom Licht redenden Blinden eine zwielichtige Gestalt, schillernd zwischen Zugewandtheit und Intrigantentum. In seiner Mimik herausragend ist Nikolaus Bendas Chuck: eine sinisterer, introvertierter Typ voller Komplexe und unterdrückter Aggressionen. Er wird der erste sein, der Grace vergewaltigt. Ähnlich komplexbeladen, aber sich schüchtern in einen bigotten Glauben flüchtend, gibt Larissa Aimée Breidbach die Martha - ein kleines Mädchen, das gleichzeitig Beschützer-Instinkte weckt und gruseln macht.

Guido Lambrecht fungiert als Erzähler und springt für die eine oder andere Nebenrolle ein. Mit perfektem Gespür für den Rhythmus der Aufführung verbindet er die einzelnen Episoden. Vor allem aber ist er ein wahrer Höllenhund. Nachdem alle Dorfbewohner erschossen sind, beendet sein Brüllen und Jaulen die Aufführung. Die Hölle existiert weiter.