Nabelschau
Der Roman Vierzig Leben von Navid Kermani wurde vor zehn Jahren geschrieben. Ihm gingen viele Veröffentlichungen voraus und viele folgten. Das letzte Buch (aus diesem Jahr) heißt „Große Liebe“. Dass sich die literarischen Arbeiten eines Sohnes iranischer Eltern auch mit orientalischer Lebenssphäre beschäftigen, bedarf kleiner Erklärung. Aber Kermani ist nicht nur iranischer, sondern auch deutscher Staatsbürger. Er wurde 1967 in Siegen geboren und lebt heute mit seiner Frau (Islamwissenschaftlerin) und zwei Kindern in Köln. Die Rheinstadt hat ihn inzwischen nachhaltig geprägt. Und so bevölkern in Vierzig Leben Menschen Kölns Wohnviertel wie das sprichwörtlich gewordene Nippes oder das Belgische Viertel. Viele Sätze und Worte in seinen Kurzgeschichten hat Kermanis in irgendwelchen Kneipen, an Kiosken oder im Müngersdorfer Fußballstadion ausgelesen, wo sich die Fans von 1. FC auszutoben pflegen. Solche hitzigen Debatten oder auch stammtischartige Gespräche kontrastiert der Autor mit Weltfragen wie Religion und Kultur, mit Überlegungen zu Dingen des Irdischen und Göttlichen, mit dem Gegensatz von Alltag und Ekstase, um den Titel eines Stückes von Rebekka Kricheldorf zu benutzen, welches vor kurzem Premiere im Freien Werkstatt Theater hatte (siehe Rezension).
Die einzelnen Geschichten von Vierzig Leben haben relativ wenig miteinander zu tun, besitzen mit ihren häufig skurrilen Gedanken aber doch einige Verbindungslinien. Für eine Bühnenversion war die Stofffülle natürlich radikal zu kondensieren. Intendant Heinz Simon Keller hat sich mit seinem Bühnenautor Marcus Seibert als „Aufhänger“ für die Episode „Von der Gegenwart“ entschieden, wo es um den Tod das FC-Anhängers Thorsten geht. Erinnerungen an ihn vereinen die Freunde Anke, Antun, Christian und Rolf an einem kitschigen Devotionalien-Altar“(pittoresk gestaltet von Tobias Flemming), wo man Bier prostend und mit Gesang Trauergedanken nachhängt. Doch nicht lange, da ist man bei persönlichen Dingen wie Schreibblockade, rituellem Ausschenken von Lagavullin mit Cola, Gedanken an Sohnestötung oder erkaltete Ehe. Am berührendsten ist eine von Anke erzählte Geschichte. Sie wurde vergewaltigt und von dem Schänder wie ein ausgeschlachtetes Stück Vieh zurück gelassen. Doch irgendwann - bereits auf der Straße - kamen dem Mann Reuegedanken. Er kehrte zurück und deckte die entblößte Frau zu („Von der Güte“).
Die Enge der kleinen Bühne macht Heinz Simon Kellers Inszenierung vergessen, er führt seine Darsteller ebenso hitzig wie ironisch. Immer wieder mal lässt er die Bewegungen seiner Akteure wie auf Knopfdruck einfrieren, selbst in den absurdesten Körperhaltungen. Sabine Wolf (Anke), Mark Zak (Antun), Philipp Sebastian (Christian) und Matthias Lühn (Rolf) sind ein tolles Team. Nicht zum wenigsten ist zu bewundern, wie sie den oft sehr stark mäandernden Text witzig-virtuos über die Rampe bringen. Bei so viel Tempo tut das Ritardando von Ankes beklemmende Erzählung besonders gut. Und auch die Entscheidung von Marcus Seibert und Heinz Simon Keller, es nach rund achtzig Minuten mit den euphorischen Dialogen gut sein zu lassen. Zum Schluss werden nochmals die Gläser auf Thorsten erhoben.