Mittelweg
Aischylos‘ Orestie ist nicht nur einer der gewaltigsten Dramenentwürfe überhaupt. Die einzige erhaltene antike Tragödien-Trilogie ist zudem ja fast 2500 Jahre von uns entfernt. Vor 35 Jahren breitete Peter Stein breitete die Geschehnisse – so episch breit wie politisch engagiert – an seiner Berliner Schaubühne über einen ganzen Tag aus. Im letzten Jahr erfand der junge Star-Regisseur Simon Stone in Oberhausen einen Gegenentwurf: Atriden-Tragödie in zwei Stunden, ganz ohne alte Sprache, mit veränderter, neu akzentuierter, vor allem neu motivierter, ganz im heute verankerter Story.
Matthias Gehrt beschreitet jetzt in Mönchengladbach einen Mittelweg, nicht nur mit seiner Spiellänge von gut drei Stunden. Er verwendet die Übertragung seines Lehrmeisters Stein, die oft sachlich und modern daher kommt und will spürbar die ganze Story, den großen Entwurf, samt der kompletten Vorgeschichte. Dazu verknappt er die Textmenge deutlich und versucht Fabel und Figuren durch Stilisierung plastisch zu fassen und zu vermitteln. Das gelingt im ersten Teil hervorragend. Unglaublich präzise agiert der dunkel gewandete, recht konventionell mit Grauhaarperücken und Spazierstöcken agierende Chor der alten Männer. Eva Spott entlockt ihrer teilhysterischen Klytämnestra nahezu komödiantische Facetten und Joachim Hentschkes so sonorer wie entkräfteter Agammemnon ist wirklich einer, der das Grauen hinter sich hat und nur noch zuhause sein will. Noch eine Spur intensiver gestaltet Helen Wendt, durchgängig an Händen und Füßen gefesselt, die Kassandra. Unschuldige Kriegsbeute und Soziopathin, Visionärin, Superschuss, systemfremdes Opfer tragischer Verstrickung, sicher die fassbarste Figur des Abends.
Der zweite Teil Die Schutzbefohlenen, die Chronologie des Muttermordes, hat weit weniger Kraft. Nele Jung als Elektra, Bruno Winzen als Aigisthos, vor allem Ronny Tomiska als Pylades bekommen viel zu wenig Raum um Figuren zu formen und Haltungen zu entwickeln. Sie liefern ihren Text mit leicht individualisierter Körpersprache präzise ab – und rauschen vorbei. Selbst Cornelius Gebert als Orest findet erst in der Dekonstruktion, nach dem Mord an seiner Mutter Klytämnestra, zu einer konzentrierten, intensiven Figurendarstellung. Der Regie geht es hier offenbar hauptsächlich um den Schluss, um den zerstörten Orest als Anthithese zur triumphierenden Täterin im ersten Teil. Da öffnet sich jeweils die – ein ironischer Akzent? – automatisierte Flügeltür in der, sowohl den Atridenpalast als auch die „Scena“ der antiken Aufführungspraxis darstellenden, roten Steinquaderwand und die blutigen Leichen werden heraus gefahren.
Im dritten Teil, den Eumeniden, scheinen wir plötzlich in Hollywood angekommen. Blauer Nebel überall. Apollon (Adrian Linke mit Plateauschuhen, Glitzerweste und seidenlangem Haar) befreit Orest von den Erinnyen, den Rachegöttinnen, die hier aussehen wie Antiken-Zombies und verweist sie an seine ‚Kollegin‘ Athene. Diese sitzt auf einer Treppe, auf die riesengroß ihr Gesicht projiziert wird und ist reine, mikrophonierte Sprache. Personenkult um eine Unperson, ein kritischer Akzent, den Esther Keil auf hohem Niveau mit Leben füllt. Sie inauguriert eine Gerichtsverhandlung mit scheinbar aus dem Publikum rekrutierten Richtern, spricht Orest schließlich frei und macht die Rachegöttern zu „Eumeniden“, zu Beschützern. Etwas Neues beginnt.
Trotz großer bildlicher Heterogenität, trotz der Hollywood-Ästhetik, der fast karnevalistischen Aufmachung und des comichaften Agierens der Erinnyen, des statischen Herumsitzens der Laienrichter, setzt Gehrt hier seinen entscheidenden interpretatorischen Akzent. Er feiert die Einführung einer geregelten Rechtsordnung, weil sie die Menschen zwingt Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, statt es nur, wie vor allem im „Agammemnon-Teil“ plastisch gezeigt, immer aus der Vergangenheit abzuleiten. Gleichzeitig zeigt der Regisseur aber auch die Verzwergung von Ritualen, denen so die Heilkraft genommen wird und die Domestizierung von Trieben und Aggressionen, die mit jeder Art von Demokratisierung einhergehen.
Keine Rose ohne Dornen. Schlichte Wahrheiten. Antike Tragödie eben.