Steaks leiden
Die ersten Geräusche, die uns von der Bühne entgegenschallen, erinnern an die Troglodisten. Das waren die in unterirdischen Kanälen hausenden Anarchisten aus dem Film von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro aus dem Jahre 1991. Doch es sind nicht die französischen Delicatessen, die uns im Schauspielhaus Bochum aufgetischt werden, sondern die zwölf Jahre frischeren Dänischen Delikatessen von Anders Thomas Jensen, dessen Film motivisch eindeutig von seinem französischen Kollegen inspiriert wurde. Das schaurige Röhren stammt nicht von den Troglos, sondern von Richards Bruder Armin, der im Obergeschoss des zweistöckigen Bühnenbildes im Wachkoma liegt. Hirntot, wie die Krankenschwester bedauernd feststellt. „Das war er früher schon“, sagt Richard lakonisch.
Richard ist Metzger. Ebenso wie Karl. Die beiden haben sich mit einer eigenen Fleischerei selbständig gemacht. Endlich sind sie unabhängig von ihrem ehemaligen Chef Möbus. Der ist zwar ein fieser Kerl, aber er hat die besten Blutwürste weit und breit, und daher haben Karl und Richard Ebbe in der Kasse - die Kunden präferieren weiterhin die Wurst vom alten Chef. Karls Freundin flieht das drohende Prekariatsleben, und so ist der einzige regelmäßige Gast in Karls und Richards schäbigem Etablissement der Handwerker, der vergeblich ein paar Verschönerungen anzubringen versucht an einem Ladenlokal, das auch in der alptraumartigen Endzeit-Ruine des Monsieur Clapet aus dem französischen Film-Vorbild vorstellbar wäre. Eines Tages findet sich der Handwerker überraschend in der Kühlkammer wieder, und da das Geld für den Wareneinkauf eh knapp ist, wird er kurzerhand zu Hühnchen mit Marinade verarbeitet. Womit Karl eine wahre Delikatesse erfunden hat, die nunmehr die ganze Stadt verzückt und den zynisch-schmierigen alten Fleischermeister Möbus in den Ruin treibt.
Genüsslich entwickelt Jensens Film seinen tiefschwarzem Humor und seine drastische Komik. Hans Dreher und Oliver Paolo Thomas, das Künstlerische Leitungs-Team des benachbarten ROTTSTR5-Theaters, erzählen in ihrer Gast-Inszenierung beim Bochumer Platzhirschen die grausliche Geschichte nach. Eine wunderbare Bühne haben sie dazu gebaut; die Metzgerei scheint in einem verrotteten Kellerloch zu liegen mit vergilbten Kacheln, bröckelndem Putz und notdürftig zusammengeflickten Toren. Schütteres Licht flimmert ab und zu in der Kühlkammer, die dann zu einem Drittel vom Parkett aus einsehbar ist und selbstverständlich nicht nur den Handwerker aufnehmen wird - schnell lässt die Nachfrage im Dorf das Fleisch knapp werden. Dreher und Thomas sind ein paar großartige szenische Bilder eingefallen - kaum richtet sich die Aufmerksamkeit der handelnden Personen auf den riesigen Fleischwolf, gibt es schon Giggeln im Publikum: Karl wird wieder an der Kurbel drehen, und aus dem Ofenrohr an der Rückwand quillt wabernd das zu weiteren Delikatessen zu verarbeitende Formfleisch. Wer das eklig findet, der achte auf die sich verändernden Anagramme des „DELIKATESSEN“-Schilds über dem Ladeneingang: DASS EKELT NIE. Es ist höchstens STEAKS LEIDEN.
Schauspielerisch erzielt das siebenköpfige Team umso mehr Wirkung, je vorbehaltloser sich die Figuren der Skurrilität der Geschichte hingeben. Die wortkargen Figuren überzeugen mehr als die redseligen. Zu Beginn ist Raiko Küster als Richard der introvertierte, skurrile Typ. Nur widerwillig mag er sich dem Enthusiasmus und der hohen unternehmerischen Risikofreude seines Partners anschließen. Schnell aber kehrt sich die Rollenverteilung um. Kaum hat Richard den Toten im Kühlraum entdeckt, ist Küster der temperamentvollere, aufgeregtere der beiden Partner, während Jost Grix ganz cool bleibt. Je mehr Karl sein zufällig entdecktes Geschäftsmodell entwickelt, desto introvertierter und verdruckster, desto verschrobener und skurriler wird Grix‘ Figurenzeichnung - mit seiner Lakonie und seinem gelegentlich aufblitzenden hintergründigen Lächeln trägt er die Aufführung und sticht aus dem durchweg gut aufgelegten Ensemble heraus. Neben ihm überzeugt vor allem Felix Lampert in der kleinen Nebenrolle des debilen, durch einen Unfall hirngeschädigten Armin; Damir Avdic zeigt in gleich fünf kleinen Rollen, was er kann: Er legt den Conferencier bei der Eröffnungsfeier des Ladens laut und clownesk, den den Weg alles Irdischen gehenden Immobilienmakler dagegen wesentlich subtiler, mit erheblich leiserem Komödiantentum an.
Die durchgeknallte schwarze Komödie wurde bei der Premiere vor allem vom jüngeren Teil des Publikums gefeiert. Doch obwohl die Inszenierung um zehn Minuten kürzer ist als die Film-Vorlage, gab es auch zähe Momente. Dreher und Thomas beschränken sich auf eine reine illustrierende Nacherzählung der Geschichte. Ein wenig mehr Bösartigkeit hätte der Inszenierung gut getan - alternativ vielleicht auch ein wenig mehr Schwung oder eine noch stärkere, auch die Nebenrollen stärker einbeziehende Fokussierung auf abgedrehte Skurrilität. So war der heitere Kannibalismus hundertprozentig jugendfrei - Familienstück statt Horrorkomödie, mildes Chicken with Cashew Nuts statt Hühner-Curry Sri Lanka Style. Aber ein Schmunzeln auf den Lippen ließ sich nicht verhehlen. Ebensowenig der Wunsch, nach Ende der Aufführung ein Hühnchen mit Marinade im Bochumer Bermuda3Eck zu genießen.