Die Alten und die Revolution
Da sitzen sie nun, jeder auf einem Stuhl, hübsch aneinander gereiht, blicken uns an und scheinen doch ins Leere zu starren – ein Seniorenquintett der Ratlosigkeit, das glotzt und schweigt. Sie hocken mit dem Rücken zur dunklen Wand, dahinter nur noch undurchdringliches Schwarz. So geht das eine Weile, bis dann doch ein Gespräch beginnt, in dem die Sätze zunächst daherkommen wie aufgesagt. Nirgends Emotion, nur kalte Beiläufigkeit. Und diese Fünf sollen eine Verschwörerbande sein, Attentäter im Namen der Gerechtigkeit?
Erst langsam kommen die Dinge in Fahrt, hier, in Düsseldorfs Schauspiel, in Albert Camus’ Fünfakter Die Gerechten. 90 Minuten dauert das Stück, doch erscheint es länger, vielleicht, weil Regisseur Michael Gruner uns Atempausen des Schweigens gönnt, weil diese höchst puristische Inszenierung auf die ach so beliebten Videoprojektionen verzichtet. Statt visueller Overkill unbedingte Konzentration auf den Text. Denn Camus’ Drama lebt von der Wirkung des gesprochenen Wortes, des intellektuellen Dialogs, des Fragens und Hinterfragens. Die Handlung ist nur Folie, am Ende herrschen Ratlosigkeit und Agonie.
Der Stoff des Dramas ist der Wirklichkeit entlehnt, bezieht sich auf ein historisches Datum: Am 4. Februar 1905 wurde in Moskau der Großfürst Sergej Alexandrowitsch, ein Onkel des Zaren, von Mitgliedern der „Sozialrevolutionären Partei“ ermordet. Iwan Kaljajew warf damals die Bombe, Camus änderte den Namen des Täters nicht. Die fünf Verschwörer aber, sie zeichnet er als von Selbstzweifeln und innerer Zerrissenheit geplagte Intellektuelle. Sie morden im Namen der Gerechtigkeit, doch steht diese über dem Leben? Und was ist eigentlich mit der Liebe?
So steht dieses Quintett also da und disputiert. Boris (Borja) Annenkow, der planende Kopf, den Reinhart Firchow als ruhenden Pol spielt, der knappe „Basta“-Befehle erteilt, sich aber bisweilen nach dem früheren Leben sehnt, einem Dasein in Glanz und jugendlicher Unbekümmertheit. Für derartige Sentimentalitäten scheint der Hardliner Stepan Fjodorow nur Verachtung übrig zu haben. Wolf Aniol gibt ihn als zornigen Alten und finsteren Fanatiker, der keinen Widerspruch duldet. Und doch kannte Stepan einst die Liebe. Im Gefängnis aber wurde sie ihm, vor den Augen seiner Frau, ausgepeitscht. Kurz nur gibt er sich der völligen Verzweiflung hin, es ist eine von wenigen Entäußerungen in diesem Kammerspiel, wo vieles kühl und sachgerecht erörtert wird.
Selbst die Liebe zwischen Dora Duljebow und Iwan hat etwas ungelenk Verspieltes, nichts wild Leidenschaftliches. Denn über allem steht das revolutionäre Projekt. Entsprechend changiert Marianne Hoika als Dora, mit angerauter, teils larmoyanter Stimme, zwischen Lebenslust und Kadergehorsam. Und Andreas Weissert gibt dem fünften im Bunde, Alexej Woinow eine geradezu lustvolle Kontur, auf dass das Attentat ja gelinge. Und doch: Am Ende plagen ihn Angst, Zweifel und Feigheit, wie er selber sagt.
Aller Augen aber ruhen, teils liebevoll, teils skeptisch, auf Iwan. Auf ihn kommt es an, er soll die Bombe werfen. Michael Abendroth gibt ihn, den die anderen ‚den Poeten’ nennen, als jovialen Typen, der indes messerscharf argumentieren kann. Der andererseits diesen sanftmütigen Blick hat, wenn er gesteht, versagt zu haben, als er zwei Kinder in der Kutsche des Großfürsten sah. Der von der Liebe zu den Menschen spricht und das Töten scheut für einen fernen, neuen Staat. Der zu provozieren weiß mit seinen Ansichten und sich doch dem Befehl der Organisation beugen will.
Regisseur Michael Gruner rückt diesen Menschen aus dem Geist der Analyse auf den Leib. Das wirkt eindrucksvoll und kühl zugleich. Doch dann, wenn nun der „erfolgreiche“ Attentäter Iwan im Gefängnis sitzt und aus seinem Gerechtigkeitsempfinden heraus auf seiner Hinrichtung besteht, wenn ihm die Großfürstin (Louisa Stroux) in einer Mischung aus Hysterie und Affekt entgegenschleudert, er, der Gerechte, habe den falschen getötet, nämlich den, der auf der Seite der Bauern stand, wenn beide im heiligen Zorn aufeinander losgehen, nimmt uns das Stück wirklich gefangen.
Zwei Fragen bleiben. Die eine, warum Gruner jugendliche Revolutionäre (im Stück zwischen 19 und 28 Jahren alt) mit einem eher betagten Ensemble besetzt, erschließt sich aus dem Text. Dora sagt: „Das Traurigste ist, dass all das uns alt macht. Von nun an können wir sterben, wir haben das Menschsein durchlaufen“. Das zweite Rätsel besteht aus einem oft wiederkehrenden Bild. Dann drängen sich die Fünf zu einem frierenden, ohnmächtigen Häuflein zusammen. Und im Hintergrund tönt die Geräuschkulisse der Straße, als wären wir in der Moderne angelangt. Autos statt Fürstenkutsche – Ungewissheit statt Revolution. Fast scheint es, Michael Gruner wolle im Stück nur ein Traumgebilde sehen. Das vom Schweigen eingerahmt wird.