Düsternis und Poesie der Transkommunikation
Der Tontechniker ist in dieser Aufführung zentral platziert. In der Mitte der Bühne. Denn der Tontechniker ist die wichtigste Figur der Aufführung. Im Programmheft wird er auch „der Eremit“ genannt. Er nimmt den Kontakt mit den Toten auf. Der Eremit ist Transkommunikationswissenschaftler. Ein Geisterkontakter.
Eigentlich heißt der Tontechniker Dr. Torben Markwart. Im richtigen Leben ist er der Schauspieler Wolf Gerlach. Stoisch fuhrwerkt er an seiner umfangreichen Apparatur herum. Wie er da mit wuscheliger langer Mähne in der Mitte der Bühne sitzt, am Toaster die Zigarette anzündet und selbst bei physischen oder psychischen Schmerzen sich nur kurz schreiend im Stuhl aufbäumt, wirkt er tatsächlich wie ein Eremit. Fortzubewegen aus seinem Universum von Tonbändern und Maschinen, gelingt ihm nicht mehr.
Dafür ist am Rande der Bühne eine Figur permanent in Bewegung. Für einige Zuschauer ist sie fast außerhalb des Blickfelds. Stumm, wie in Super Slow Motion wandert Annegret Thiemann im Kreis. Immer rund um einen Kegel aus abgelegten Kleidern. Wandert da wirklich Annegret Thiemann oder wandert ihre Seele? Nach und nach legt sie eine Lage nach der anderen von den unzähligen Röcken und Kleidern ab, die sie trägt. Später fügt sie sie dem Kleiderberg hinzu. Manchmal werden ihre Schritte auch zu anmutigen Tanzbewegungen. Doch sie interagiert nicht mit den anderen Personen. Sie ist einsam, angekommen im Totenreich. „Sueva, eine Liebende“ heißt sie laut Programmheft.
Einmal interagiert sie doch. Die andere Sueva, „Sueva, eine Vergessene“, liegt schon zu Beginn der Aufführung wie Barschel in der Badewanne. Die junge Frau ist die Freundin von Robin, dem Liebenden, und sie hat sich plötzlich und unerwartet das Leben genommen. Robin versucht, sowohl auf eigene Faust als auch über Dr. Markwart mit Sueva zu sprechen. Lange wird er sie nicht begraben. „Sie ist noch nicht unter der Erde - das gefällt mir nicht“, ruft Markwart verärgert, und als die von Martina Roth gespielte junge Sueva deshalb in Konflikt gerät mit dem sie kontaktierenden Transkommunikationswissenschaftler, als sie aufgeregt feststellen muss, dass dieser nicht auf Kommando hört, fängt die Slow Motion Sue ebenso aufgeregt an zu rennen. Einmal, als Roth ihr Kleid lupft, um es auf dieselbe Weise auszuziehen wie die „Liebende“ im Totenreich, macht Annegret Thiemann synchron dieselbe Bewegung. In besonderen Stress-Situationen empfinden sie noch miteinander, die Liebende und die Vergessene, zwei Seelen ach des einen Menschen an unterschiedlichen Stationen ihrer Seelenwanderung …
Sueva sehnt sich nach Berührungen, die es im Himmel oder in der Hölle nicht geben wird. Gleichzeitig lehnt sie Körperempfindungen ab. Immer wieder sind sie Thema in dem Text des Diplom-Psychologen Sebastian Ulbrich, die Empfindungen des Körpers, die die Lebenden genießen, die die Toten nicht mehr spüren und gegen die die Suizidalen häufig einen Widerwillen entwickeln. Düster und doch auf eine merkwürdige Weise poetisch ist dieser transzendentale Abend: Wir erleben das orientierungslose Suchen eines emotional überforderten Hinterbliebenen, die Verzweiflung einer sterbenden Seele, die Selbstkasteiung einer Selbstmörderin. Schmerz erfasst die junge Tote, deren Seele offenbar noch zu empfinden vermag. Wünsche schreit sie in den Raum. Wünsche, die immer abstruser werden, immer autoaggressiver. Die Wünsche einer Suizidalen. Doch: „Ich will keine Vergessene sein“, klagt Sueva auch.
„Das sollte doch die Frage sein: Wo ist Ich jetzt“, fragt die Tote - und irgendwie scheint es ja, als gäbe es im Jenseits sogar ein gespaltenes Ich zwischen der schon fortgeschrittenen „Liebenden“ Thiemann und der gerade ins Jenseits wandernden Roth. Im Programmheft findet sich eine Danksagung an eine Lyrikerin namens Dana-Christene Umanetz, die in obskuren Internet-Foren zitiert wird. „The darkness is death – we can speak, but we are not heard. We can scream but they turn their backs. We can run, but we cannot catch them. … Loved ones walk a mile ahead, forgetting to stop as we fall behind. This is the reality of the darkness. We are buried alive inside ourselves.” - Das in etwa scheint die Situation der sterbenden Sueva zu sein. Immer wieder, wenn Markwart mit den Toten zu sprechen versucht, wird es dunkel im Bühnenraum. Doch ganz vergessen ist Sueva nicht, denn Robin sucht verzweifelt nach Erkenntnis über seine Freundin, und Dr. Markwart bemüht sich, durch seinen Wellensalat Kontakt zu ihr aufzunehmen. Doch der Kommentar des Eremiten ist ernüchternd: „Die ganze Konzeption des Ichs ist leider nur eine Illusion“, brummt er.
Dr. Torben Markwart, unser Tontechniker in der Mitte der Bühne, hat übrigens einen Vorgänger im richtigen Leben. Der 1987 verstorbene Schwede Friedrich Jürgenson gilt als der „Nestor und Begründer der Erforschung der paranormalen Stimmen“ (Verein für Transkommunikationsforschung) und weiß überzeugend von seinem „Sprechfunk mit Verstorbenen“ zu berichten. Jürgenson stand dieser Aufführung wohl Modell für den verstorbenen Fjodor Lundberg, dessen Stimmen Dr. Markwart einmal einfängt. 1959 ging Jürgenson in den Wald, um mit dem Tonband Vogelstimmen aufzunehmen. Als er das Band später abhörte, sprach zu ihm unter all dem Gezwitscher eine Stimme über die nächtlichen Lieder der Vögel. Bei weiteren Ausflügen nahm er auch Nachrichten von seiner längst verstorbenen Mutter auf. Der am Aufführungswochenende selig gesprochene Papst Paul VI. fühlte sich schon damals auf Wolke Sieben: Angesichts solcher Gottesbeweise verlieh er Jürgenson für seine Entdeckungen das Komturkreuz des Ordens des Heiligen Georg. - Die Inszenierung von Immanuel Bartz ist schon ziemlich schräg, doch nichts ist so schräg wie die reale Welt …