Heimkehr eines Expressionisten
Ein Young Director hat Archäologie betrieben: Der junge serbische Regisseur Miloš Lolic nahm im Sommer mit drei weiteren internationalen Regisseuren an dem in diesem Jahr letztmals stattfindenden Wettbewerb des „Young Directors Project“ der Salzburger Festspiele teil und grub ein altes Stück aus der Zeit des Expressionismus aus. Ernst Toller, Münchner Räterepublikaner, revolutionärer Politiker und hypersensibler, empfindsamer Schriftsteller, wurde unter anderem mit Die Wandlung, Masse Mensch und Die Maschinenstürmer zu einem der erfolgreichsten Dramatiker seiner Zeit; im Ausland übertraf sein Bekanntheitsgrad zeitweise sogar den Ruhm von Georg Kaiser und ... ja: sogar von Bertolt Brecht. Hinkemann, das Lolic jetzt mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus für Salzburg wiederbelebte, ist wohl sein bekanntestes Stück - unter anderem weil es vor 20 Jahren eine vorübergehende Renaissance in der Bearbeitung von Franz Xaver Kroetz erfuhr. Der Nusser hieß die Version des damaligen bayerischen Heimat-Linksaußen, die unter anderem am Schauspielhaus Bochum zu sehen war. Der Kroetz’sche Aufguss von 1984 kann allerdings dem wuchtigen, wenngleich sperrigen expressionistischen Original, das 1923 uraufgeführt und damals meist nur unter Polizeischutz gespielt wurde, nicht das Wasser reichen. Mag die stargespickte Aufführung in Bochum seinerzeit ein mäßiges Stück gerettet haben, so schwingt sich das weniger stargespickte, aber hochtalentierte Düsseldorfer Team zu einer überzeugenden Rehabilitation eines fast vergessenen Dramas auf.
Hinkemann ist für den 1. Weltkrieg, was Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür für den 2. Weltkrieg werden sollte: das Stück des traumatisierten, körperlich und seelisch schwerbeschädigten Kriegsheimkehrers. Hinkemanns Verletzung ist in einer von männlichen Kraftmeiereien und Vormachtstellungen dominierten Zeit besonders erniedrigend: Dem Protagonisten hat man seine Geschlechtsteile weggeschossen. An den Fortbestand der Liebe seiner Frau Grete vermag er unter diesen Umständen nicht zu glauben. Hinkemann selbst, nur bedingt einsatzbereit an einem ohnehin darniederliegenden Arbeitsmarkt, verdingt sich auf dem Jahrmarkt, wo er seine verbliebene Kraft zur Schau stellen kann: Er beißt Ratten und Mäusen bei lebendigem Leib die Kehle durch. Eine weitere Erniedrigung, die nicht nur von Freund Paul ausgenutzt wird und zu reichlich Hohn und Spott Anlass gibt. Tatsächlich lässt sich Grete nach kurzer Zeit mit Paul ein. Hinkemann verliert mehr und mehr das Vertrauen in die Welt und mag auch der reumütig zu ihm zurückkehrenden Grete nicht mehr glauben. Er empfindet sich nur noch als „kolossal und lächerlich“. Und hängt sich auf.
Bestürzend wirkt diese letzte Szene in der Düsseldorfer Aufführung. Bestürzend wie viele andere kurze Szenen zuvor: Als ein siebenjähriges Kind ihn verspottet beispielsweise. Als Grete nach ihrer Vergewaltigung durch Paul Großhahn minutenlang stumm und zusammengekauert unter der Treppe liegt. Als Hinkemann den ahnungslosen Parteifunktionär Michel Unbeschwert (Frank Seppeler) fragt, was in der neuen Zeit mit Menschen geschehen wird, die verkrüppelt aus dem Krieg kommen: Unbeschwerts Sozialpolitik ist von so grenzenloser wie naiver Großzügigkeit - aber als Hinkemann, ohne erkennen zu geben, dass es sich bei dem geschilderten „Krüppel“ um ihn selbst handelt, von seinem eigenen Fall berichtet, heißt es nur: „Solche Menschen sind eben Opfer …“.
Mit seiner sperrigen, manchmal verstiegenen Sprache ist das Stück schwer zu inszenieren. Doch dank seiner großartigen Schauspieler gelingt es Lolic, die Balance zu halten zwischen solchen unmittelbar ergreifenden Szenen und dem Expressionismus, der sich immer wieder auch in den Bewegungen der Schauspieler und im Bühnenbild äußert. Auch das ist expressionistisch: Ein Jahrmarkt-Karussell symbolisiert es zuvörderst - nach den Stahlgewittern ein Stahlkarussell, ein schmuckloses Gestänge. Ein Bild der Düsternis anstelle der Freude und der Lustbarkeit. Umstandslos wird es in der Schlussszene zum Galgen, während es in der Auftaktszene flackert und dröhnt wie beim Granateneinschlag. Der Weltkrieg ist vorüber - und die Welt wurde in ihren Grundfesten erschüttert.
Die Sprache und die Bewegungen der Schauspieler changieren zwischen Zeichenhaftigkeit und realer Emotion. Formulierungen von großer Wucht und dunkler Schönheit, die eher zu einem lyrischen Text als zu dem erbarmungslos grausamen Geschehen des Stückes zu passen scheinen, setzen sich im Ohr des Zuschauers fest: „Da wächst ein Wald / der heißt Hohn und Spott / Da tobt ein Meer / das heißt Lächerlich / Da ist eine Finsternis / die heißt Ohne Liebe“, beschreibt Hinkemann seine Verlorenheit in der Welt. Katharina Schmidt als Grete stellt dagegen wunderbar die Gleichzeitigkeit von Liebe und Verzweiflung und somit die Zerrissenheit ihrer Figur aus, während das hysterische Lachen von Jonas Anders‘ Hinkemann beim Liebesspiel des kastrierten Mannes sich perfekt in die expressionistische Sprache des Stücks einfügt. Wie stilisiert baggert kurze Zeit später Paul Großhahn Grete an, um in der gleichen Szene noch in eine brutale, jeglicher kunstvollen Formulierung abholde Direktheit zu verfallen: „Zu mir. Ohne Widerworte! Du kommst!“
Jonas Anders, Katharina Schmidt und Daniel Christensen ragen aus einem gut geführten Ensemble heraus. Christensen spielt sich zu Beginn als sozialistisch und sozial bewegter Möchtegern-Philosoph auf, doch sehr schnell bricht Großhahns wahrer Charakter durch: Nicht proletarisch, sondern prollig ist dieser Macho, nicht sozial, sondern skrupellos und egoistisch: ein Brutalo, ein Widerling, ein Provokateur, der auch beim Zuschauer emotionale Reaktionen auslöst. Jonas Anders, dessen Hinkemann die ärmste und die ärmlichste Sau in diesem Stück und gleichzeitig die einzige Figur mit intellektuellem Potential ist, gewinnt spätestens dann die Oberhoheit über das Spiel, als seine geheim gehaltene Erwerbstätigkeit als Rattenbeißer an die Öffentlichkeit kommt: Niederschmetternd, erschütternd wird die Aufführung in diesem Moment - wie sich Hinkemann nun in die (in dieser Konsequenz ja sogar nur vermeintliche) Aussichtslosigkeit seines Schicksals verrennt, zeigt Jonas Anders auf ebenso expressive wie berührende Weise.
Lolic inszeniert Tollers Stück ohne Aktualisierungsversuche. Es gibt durchaus Momente, in denen man sich fragt, warum das Düsseldorfer Schauspielhaus diesen alten Schinken wieder aus der Mottenkiste geholt hat. Aber muss der Regisseur den Zuschauer immer so lange aufs Pferd setzen, bis er das Tier auch ohne nachzudenken reiten kann? Letztlich erleben wir hier doch die menschlichen Gelüste und die Intrigen, die es schon vor dem 1. Weltkrieg gab und die es noch heute gibt. Wir werden konfrontiert mit den Brutalitäten und Traumata des Krieges, die wir heute in Deutschland vielleicht nicht mehr kennen, die aber nur wenige Flugstunden entfernt an der Tagesordnung sind: in Ländern, in denen die Welt ebenfalls gerade in ihren Grundfesten erschüttert wird und in denen es ebenfalls Opfer und Kriegsgewinnler gibt, die kaum je aufeinander Rücksicht nehmen. Wir hören die - ergebnislosen - Diskussionen darüber, ob alternative politische Systeme mehr Gerechtigkeit bringen könnten. Man muss also nicht lange nachdenken, um Parallelitäten in unserer heutigen Welt zu erkennen. Um Erkenntnisse bestätigt zu finden, die Toller ähnlich formulierte wie später Brecht: „Der Mensch ist nicht gut, solange er hungert“, analysiert Hinkemann. Und: „Die Menschen morden sich unter Gelächter.“ - Letzteres könnte auch dreißig Jahre später bei Beckett stehen.