Ihr naht euch wieder, schwankende Gedanken
Jakob Schneider spielt den Orest. Schneider war der einzige Schauspieler, den der avantgardistische Dortmunder Schauspiel-Intendant Kay Voges bei seinem Dienstantritt vor drei Jahren aus dem Ensemble des eher biederen Vorgängers Wolfgang Gruner übernahm. Nach einem Jahr ergriff Schneider die Flucht: zu anarchisch, zu unkonventionell, zu sektiererisch vielleicht auch war ihm das neue Team. Seit Beginn der Spielzeit 2014/15 gehört Jakob Schneider zum festen Ensemble des konventioneller orientierten Günther Beelitz am Düsseldorfer Schauspielhaus. Und er spielt in seiner Antrittsrolle den Orest: ganz unkonventionell. In einer feinsinnigen, werktreuen, dem Text dienenden Inszenierung …
Orest - das ist Iphigeniens Bruder. Von den Göttern verflucht wegen seines Muttermordes, wird er gemeinsam mit seinem Freund Pylades angespült an den Gestaden von Tauris, wo seine Schwester Iphigenie, vom König (vom Tyrannen?) Thoas umworben, als Priesterin im Tempel der Diana dient. Nach langer Flucht und Irrfahrt und unter dem Eindruck des Götterfluchs ist Orest depressiv und hoffnungslos geworden, suizidal und ein bisschen crank in the kopp. Zeichen des Wahnsinns lassen sich der Lektüre von Goethes Nicht-Drama (das Stück ist eigentlich ein philosophisches Konstrukt, das eher für eine Diskussion auf einem Kongress über Ethik und Moral in Politik und Gesellschaft taugt als zur Aufführung auf einer Theaterbühne) durchaus entnehmen, doch kennen wir die Figur von den Theaterbühnen als Menschen von edlem Auftritt und nur bisweilen wirrer Größe. So durchgeknallt wie Jakob Schneider (natürlich nur vor dem sensationellen Heilschlaf, in den ihn Iphigenie hineinargumentiert) haben wir Iphigenies Bruder noch nicht gesehen. Schwer traumatisiert ist der Düsseldorfer Orest, bei Berührung durch fremde Menschen zuckt er zusammen und weicht zurück. Beide Hände wie gefesselt hinter dem Rücken tragend, versucht sich der massige Jakob Schneider klein zu machen - als er erstmals mit Iphigenie allein ist, geht er in die Knie und macht sogar auf „Häschen in der Grube“: mit heller Kinderstimme berichtet er, von Schuldgefühlen ebenso wie von den Erinnyen geplagt, von seiner Tat back in ancient Mykenae. Orests optimistischerer Reisegefährte Pylades, wie er selbst von einer umsichtigen Kostümbildnerin in ärmliche Flüchtlings-Klamotten gesteckt, wirkt dagegen wie sein amtlich bestellter Betreuer, der den Verstörten gütig, geduldig und mit sozialer ebenso wie mit intellektueller Kompetenz lenkt. Erst nach gemeinsamer Aufarbeitung der Vergangenheit mit Schwester Iphi verfällt auch Jakob Schneider, nunmehr geheilt, in den jambischen Ton des Humanitätsdramas.
Schneiders Spielweise ist in Teilen gewöhnungsbedürftig, aber gut motiviert. Durchdacht und überzeugend ist auch der Rest der Aufführung. Elegant wie Goethes Sprache und dabei von genialer Einfachheit ist das Bühnenbild von Katrin Kersten: An vier Stahlseilen aufgehängt, schwebt in fragilem Gleichgewicht eine rechteckige schräge Spielfläche im Raum - Tauris ist eine schwankende Insel in den Stürmen, die Götter, Flüche und Tyrannen über den wehrlosen Menschen entfachen, schwankend wie Iphigenie in ihrem Konflikt zwischen Neigung und Pflicht. Gleich zu Beginn fängt uns Mona Kraushaar mit einem simplen, aber ungeheuer wirkungsvollen Kunstgriff ein: Noch bevor die Scheinwerfer angehen, wird die grausame Vorgeschichte des Dramas erzählt. Aus stockendem Kindermund hören wir die blutigen Mord- und Rachegeschichten, die heute anmuten wie erbarmungslose Machtkämpfe sizilianischer Mafia-Familien, vorgelesen und vom Band eingespielt von einem kleinen, höchstens zehn Jahre alten Mädchen. Schlagender könnte die Brutalität und Grausamkeit der griechischen Heldensagen kaum verdeutlicht werden.
Unauffällig, aber ebenfalls äußerst wirkungsvoll ist die Klang-Collage von Sebastian Herzfeld, die den schwierigen Text atmosphärisch untermalt und Interpretationshilfen gibt. „Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht“, weiß Iphigenie in einem der zahlreichen Best of Goethe Zitate, und dazu wird die Musikbegleitung immer rhythmischer, immer lautstärker: Es ist nicht nur Furcht, es ist auch die Verzweiflung des Menschengeschlechts und seine Ohnmacht, die hier beklagt werden. - Lauter wird die Musik auch bei den inneren Monologen der Iphigenie, die wirkmächtig mit Hall verstärkt werden und so nicht nur die Aufmerksamkeit des Publikums für diese schwierigen Passagen befördern, sondern die Aufführung gekonnt strukturieren.
Mit der Aufführung stellt sich ein signifikanter Teil von Düsseldorfs neuem Ensemble vor - und möglicherweise auch das Konzept des Interims-Intendanten, das verloren gegangene Publikum zurückzuerobern. Die Inszenierung setzt auf gutes Schauspieler-Theater und größtmögliche Werktreue. Es ist beeindruckend, wie es Mona Kraushaar gelingt, aus einem elitär anmutenden, handlungsarmen Drama unter Vermeidung jeglicher Interpretations- und Aktualisierungs-Ansätze eine spannende, intensive Geschichte zu erzählen. Die Schülerinnen und Schüler, die sich im nordrhein-westfälischen Zentralabitur 2015 mit dem weltfremd anmutenden Humanismus des Stücks herumschlagen müssen, bekommen von der Inszenierung nicht mehr Interpretationshilfen als beim Lesen des Stücks: Das Plädoyer für eine Harmonie zwischen Neigung und Pflicht - heutiger ausgedrückt für ein Gleichgewicht zwischen Gefühl und Verstand -, die didaktische Absicht des Dramenschreibers zu einer Erziehung des Menschen zu Humanität und Selbstbestimmung: Das alles steckt drin in der Inszenierung so wie es im Stück steckt, muss von den jungen Zuschauern aber entdeckt werden. Der emanzipatorische Aspekt, den das Stück ebenfalls enthält, wird in Düsseldorf dagegen kaum beleuchtet.
Die durchweg großartigen Schauspieler aber erleichtern dem jungen wie dem alten Zuschauer die Rezeption des Dramas. Es wäre Meckern auf hohem Niveau, wenn man beklagen wollte, dass Thoas und Iphigenie sich in Düsseldorf lange Zeit nicht wirklich auf Augenhöhe befinden - zu sehr ragt Andreas Grothgar aus dem Ensemble heraus. Grothgars Thoas verfügt über die natürliche Autorität des Machthabers, Tanja Schleiffs Iphigenie über den Mut des kleinen Mädchens, das sich in der Underdog-Position weiß. Grothgar ist der Souverän, der sich nichts vergibt, wenn er einmal den Bittsteller spielt, der den nice guy gibt, aber in winzigen Andeutungen auch kühle Autorität und eine versteckte Neigung zu cholerischen Reaktionen aufblitzen lässt. Und während Goethes Drama von staubtrockener Humorlosigkeit ist, findet Grothgar zur Freude des Theater-Konsumenten sogar Ansätze von Ironie in seinem Schauspieler-Ich. - Tanja Schleiff spielt in dem hehren Duell zweier großherziger Machtmenschen lange Zeit die zweite Geige, aber auch sie vermag vordergründigem Spiel einen Subtext hinzuzufügen. Überzeugend paart sich ihre Furcht vor den Konsequenzen des Schacherns mit dem Alleinherrscher mit dem Mut der ethisch-moralisch motivierten jungen Frau. Und spätestens, als sie sich dem geplanten Angriff der Gang des Orest auf Thoas entgegenstellt, gewinnt sie an Größe. - Verdienter, langer Applaus für Schauspieler und Leitungs-Team.