Fürchterliche Familiengeschichte
Unangenehm ist dieses Bühnenbild. Wasser steht in zwei Vierecken auf dem Boden, darin Schuhe, Bücher, lose Blätter, Marys Brille. Drumherum Holzbohlen, durch die am Anfang, ironisch heimlich, Nebel dringt. Hinten eine dunkle Apsis, halbreisförmig, in der sich die Bewegungen des Wassers abbilden.
In diese geometrisch verfallene, verfallende Krypta hinein setzt Roberto Ciulli Eugene O’Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht, eine der fürchterlichsten aller Familiengeschichten. Der alkoholsüchtige Vater, ein wohlhabender, erfolgreicher Schauspieler, hat auch seine Söhne alkoholabhängig gemacht. Die Mutter ist durch Komplikationen bei der Geburt ihres jüngsten Sohnes und die Behandlung eines schlechten Arztes – ihr Mann ist krampfhaft geizig – morphiumabhängig geworden. Jamie, der Älteste, eigentlich klug und lebenskräftig, ist ein schrecklicher Gewohnheitstrinker geworden. Der sensible, abenteuerlustige Edmund ist schwer an Tuberkulose erkrankt. Vermutlich wird ihn der Vater mittelbar zu Tode bringen, weil er nur billige Ärzte finanziert.
Es ist Sommer. Die Theater spielen nicht. Die Familie sitzt, aneinander gekettet, aufeinander geworfen, einsam in ihrem verfallenden Haus. Ciulli erzählt das leise, selbstverständlich. Wie der Nebel durch die Ritzen, dringt langsam in den Zuschauerraum, was der große, alte Mann des Theaters in NRW zeigen will: die Zärtlichkeit. So verfallen, abgestorben diese Menschen auch sind, so lemurenhaft sie sich bewegen, sie haben Empathie füreinander, überraschend viel. Wenn sich Mary Tyrone versucht an ihren Mann zu kuscheln, wenn die Brüder sich lange still umarmen, mitten im Wasser, bleibt die Zeit stehen. Weil alles so leicht geht, so locker modelliert ist, weil nichts ausgestellt, nichts übertrieben, aber alles geformt ist, balanciert der zweistündige Abend zielsicher nah an der Sentimentalität vorbei.
Und Mülheim hat Schauspieler! Die widerborstige, so spröde wie brillante Zurückhaltung, die Klaus Herzog dem James Tyrone auferlegt, macht die Figur, diese oft so hohl servierte Paraderolle für Schauspielgiganten und welche, die sich dafür halten, menschlich und furchtbar. Ganz künstlich legt Simone Thoma ihre Mary an, mit klar strukturierten Worten, Sätzen und Monologen, mit fein abgestuften Sprechtonhöhen. Manieristisch fast, aber auch sehr filigran. Fabio Menendez fasst den Jamie konventionell, artikuliert sonor und flach, führt Brillanz nur als leere Hülle vor, rührt durch seine endgültige Richtungslosigkeit. Marco Leibnitz schließlich: Strubbelhaar, Poetenhut, Schlabberlook. Wie sein Vater hat er Sumpfflecken auf der Kleidung als Zeichen des Verfalls. Wie sein Vater versucht er gleichmütig zu sein, mit seiner wunderschön modulierten Sprechstimme und seinen merkwürdig fragmentierten Tanzschritten, die einen Rest Wut – also: Leben – artikulieren. Sie wächst einem ans Herz, diese fürchterliche Familie, erst Recht, wenn sie am Ende ein Spiel spielen. Die Schauspieler improvisieren hier, offensichtlich, mit großer Freude, aber nie laut. Leise beginnen sie, leiser werden sie. Schließlich verlischt alles.
Schön ist das alles nicht, aber wahnsinnig gut gemacht. Und genau beobachtet. Und manchmal, für fast nur Mikrosekunden, auch witzig.