Übrigens …

Einsame Menschen im Bochum, Schauspielhaus

Keine ménage à trois am Müggelsee

 

Ist sie das wirklich? Jana Schulz, die größte Powerfrau des deutschsprachigen Theaters, die sonst offensiv ihre androgyne Erotik ausstellt und in fast jeder Inszenierung die männlichen Zuschauer gleichzeitig verführt und verängstigt, gibt die Käthe Vockerat. So züchtig haben wir Jana noch nicht gesehen: im hochgeschlossenen grauen Kleid, mit blassem Teint und streng zurückgekämmtem, irgendwie farblos wirkendem rotblondem Haar ist sie optisch auf Christiane von Poelnitz getrimmt, nur dass auch die selten so unterwürfig spielt. Käthchen ist die Frau, die sich nicht traut: unscheinbar, duft- und honiglos und von keinem noch so leisen Hauch von Selbstbewusstsein angeweht. Natürlich wäre Jana Schulz nicht Jana Schulz, wenn sie nicht auch eine solche Figur mit großer Ausstrahlung über die Rampe bringen würde: Im Parkett und auf der Tribüne, die vis-à-vis auf der Bühne des Schauspielhauses aufgebaut ist, leidet der Zuschauer mit. Einsame Menschen heißt das Stück des Abends, und wer könnte einsamer sein als diese Käthe, so wie sie von Jana Schulz dargestellt wird?

Nervös ist sie auch, die Käthe Vockerat. Schon bevor die Türen zum Parkett geschlossen sind, läuft sie zum ersten Mal hektisch nach draußen, um nach ihrem frisch geborenen Philipp zu schauen. Es ist der Tag der Taufe: „Liebster Jesu, wir sind hier …“ singt der Opernsänger Tomas Möwes, den Regisseur Roger Vontobel für seine Schauspiel-Inszenierung und die Familie Vockerat zur bildungsbürgerlichen Gestaltung ihrer Feier engagiert haben. Der Cellist Matthias Hermann zupft und streicht die Melodie von „Üb immer Treu und Redlichkeit“: Im Haus am Müggelsee ist alles in Butter; man lebt maßvoll liberal nach den allgemein akzeptierten Werten bürgerlicher und christlicher Tradition. Das Unglück der Schwiegertochter wird geflissentlich übersehen; Michael Schütz als Vater Vockerat sondert in wohlgesetzten Worten ein paar Allgemeinplätze ab und Katharina Linder als Mutter der Kompanie hat sowieso das Herz auf dem rechten Fleck. Reinhard Mey macht sich mit seinem etwas kitschig-kraus getexteten Apfelbäumchen-Song in dieser Entourage ganz prächtig, und wenn wir folgsame Zuschauer wären, sängen wir sein Liedchen alle mit.         

Von Menschen, die „beharrlich jede Warnung überhörn“, singt der Barde im Apfelbäumchen. Von Warnungen will Käthes Gatte Johannes nichts wissen. Irgendwie verstehen wir das: Wie ein Wirbelwind fällt Therese Dörr als Zürcher Studentin Anna Mahr in die spröde Idylle ein. Im kecken leuchtend gelben Kleid bringt sie endlich einen fröhlichen Farbklecks in die nette, aber graue Familie, und mit ihrem Temperament lässt sie das Mauerblümchen Käthe alt aussehen. Dass Johannes voll auf Anna abfährt, ist nachvollziehbar - warum das umgekehrt auch der Fall ist, begreifen wir weniger: Paul Herwig gibt dem Johannes Vockerat alles andere mit, aber sicher keinerlei Liebreiz. Dieser Mann ist schlicht gestört: „Bildungshochmut“ wirft sein Studienfreund Braun (deutlich geerdeter, aber auch merkwürdig ambitionslos: Felix Rech) ihm vor, aber unser Bochumer Johannes braucht sein aufgeregtes Getue um seine ach so wichtigen wissenschaftlich-philosophischen Studien zur Kompensation seiner Minderwertigkeitskomplexe. Während Anna Leben und ein Minimum an Erotik in die Bude bringt, ist Johannes ein selbstbezüglicher, Nerven zersägender Verirrter. Egozentrisch, nur auf seine Studien konzentriert, frustriert von der fehlenden Anerkennung im persönlichen wie im wissenschaftlichen Umfeld, ist er fürs Familienleben nicht geschaffen. Psychisch müsste ihm eine kleine Bootsfahrt eigentlich gut tun - aber wie Gerhart Hauptmann sein Stück nun mal geschaffen hat, rudert Johannes heimlich verliebt mit Anna los und kommt paar Stunden später weniger heimlich, aber immer noch uneingestanden verliebt zurück. Da sind Reinhard Meys respektive Mutter Vockerats Warnungen vor den Risiken und Nebenwirkungen einer weiteren Beschäftigung mit der frohgemuten Zürcher Intelligenzbestie durchaus angebracht.

Spätestens an dieser Stelle entscheidet sich, ob eine Inszenierung der alten Scharteke uns im 21. Jahrhundert noch etwas sagt. Denn Hand aufs Herz: Wer heutzutage mit einem solchen Trauerkloß als Ehefrau geschlagen ist und dann auf gegenseitig empfundene Seelenverwandtschaft bei einer jungen hübschen Studentin stößt, der schnürt doch zu Hause sein Bündel und geht. Johannes Vockerat aber glaubt an eine mögliche Freundschaft zwischen Mann und Frau. Eigentlich träumt er wohl von einer ménage à trois. Das ist eine recht moderne Lösung, die der Dichter, wie man hört, auch bei sich zu Hause gern eingeführt hätte. Seit dem Jahre 1968 hat sie eine zunehmende Zahl von Menschen ausprobiert, aber verschwindend wenige haben sie in einen glücklichen Dauerzustand überführen können. Das Gefühl der Verantwortung für die Familie wird außerdem durch ein frisch geschlüpftes Kind schnell zu einem Mühlstein, der den nach Nachbars Kirschen Schielenden schwer um den Hals hängt. Außerdem lässt sich anhand von Hauptmanns Stück trefflich diskutieren, ob der Drang nach kompromissloser Selbstverwirklichung mit einem glücklichen Familienleben kompatibel ist oder zu den Einsamen Menschen führt. - Wer diese keineswegs unmodernen Gedanken trotz Hauptmanns etwas verquaster Late 19th Century Sprache in einer für uns relevanten Weise auf die Bühne bringen kann, liefert eventuell eine gelungene Inszenierung.

Roger Vontobel kann das. Nur behutsam hat er Hauptmanns Sprache aktualisiert, aber es gelingt ihm schon in der ersten halben Stunde der Inszenierung brillant, den emotionalen Subtext unter der eher oberflächlichen Konversation der Familie Vockerat zum Klingen zu bringen: Einsamkeit und Vergeblichkeit, aber auch die Bedrohung durch den plötzlichen Einbruch echten Lebens in die verstaubte Familie. Die Bedrohung durch den Versuch einer Freundschaft zwischen Mann und Frau, die blitzschnell zu Liebe wird. Und Liebe ist kein Engelchen mit Flügeln, kein dicker Säugling, der mit Pfeilen schießt: Die Liebe ist ein Engel von den vielen, die Gottes Rache aus dem Himmel stieß. Das wusste schon Ulla Hahn, und Vontobel zeigt es anhand des Paares Anna / Johannes überzeugend auf.

Vontobel entwickelt aus einem anfänglich harmonischen Kammerspiel ein expressives Seelendrama, das dann wieder in einer sensiblen, nachdenklichen und traurigen Schlussszene mündet. Die Aufführung zeichnet sich durch eine höchst sorgfältige Schauspielerführung aus. Jede Figur bekommt die gleiche große Aufmerksamkeit und Zuneigung des Regisseurs. Auch die mit beiden Beinen im Leben stehende Anna hat offenbar ein trauriges Geheimnis: Mehrfach deutet Therese Dörr durch plötzliches betretenes Schweigen an, dass sie daheim in Zürich möglicherweise ebenfalls zu den Einsamen Menschen zählt und ihre Fröhlichkeit eine Schutzmaske ist. Überzeugend und authentisch gibt Katharina Linder die warmherzige, ungeheuer pragmatische, in Grenzen liberale Großmutter; Michael Schütz ist ein etwas selbstzufriedener Patriarch, der bei Problemen lieber wegschaut, aber im entscheidenden Moment ein wohlformuliertes, etwas von vorgestern stammendes Machtwort spricht. Paul Herwig, der seine Figur so negativ angelegt hatte, schafft es, uns in der Schlussszene sogar ein gehöriges Maß an Mitleid abzuringen. Er, der an gleicher Stelle als Richard III. seine Aggressionen durch beherzten Griff zum Schlagzeug abreagierte, beweist seine musikalischen Talente diesmal am Piano: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt“, spielt der frustriert in der vermeintlichen Provinz gefangene Wissenschaftler sich vor. Überhaupt die Musik: Matthias Herrmann und Tomas Möwes sorgen für den perfekten Soundtrack dieser Inszenierung, der nicht nur durchgängig eine melancholisch grundierte Atmosphäre schafft, sondern mit Volks- und Kirchenliedern das Geschehen kommentiert. Langer, langer Applaus.