Übrigens …

Fin de Machine / Exit.Hamlet im Dortmund

Das unentdeckte Land

„Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung, im Rücken die Ruinen Europas…“ - Die „deutsch-kamerunische Grenz-Überschreibung“ Fin de Machine ist - zumindest in Teilen - eine Übermalung von Heiner Müllers Hamletmaschine. Wenn man den eigenen illusionslosen Realismus mit einem ordentlichen Schuss Pessimismus würzt, kommt einem der berühmte Müller-Monolog vor dem Hintergrund der Krisen in Europa und der Verzettelung der Politik in der Europäischen Union ziemlich aktuell vor. Martin Ambara aber, der Gründer und Leiter des kamerunischen Theater-Laboratoriums und Kunstzentrums OTHNI in Yaoundé, glaubte in Müllers Hamletmaschine ein kamerunisches Stück zu sehen. So suchte er nach Kollaborateuren in der deutschen Theater-Szene, die diesen überraschenden Gedankengang nachvollziehen konnten, und stieß auf das kainkollektiv - eine Truppe, die noch den kompliziertesten Knoten im Hirn mühelos ein paar zusätzliche Windungen hinzuzufügen in der Lage ist. Dabei kann man Müllers ruinösen Europa-Satz ganz einfach auf die Verhältnisse in Afrika übertragen: Da stehen die afrikanischen Flüchtlinge an der Küste, gucken durch den Frontex-Zaun und erblicken das gelobte Land Europa in Trümmern. In Scherben liegen zumindest ihre Vorstellungen von einem freien und glücklichen Leben in Europa ganz schnell.

Immerhin: Europa hat wenigstens Geschichte. Afrika ist einem gängigen europäischen Vorurteil zufolge der Kontinent ohne Geschichte. - Wirklich? Nun, es ist der Kontinent ohne Geschichtsschreibung; alles, was vor der Kolonialisierung stattfand, ist „Mémoire brulée“ - verbranntes Gedächtnis, verbrannte Erinnerung. Die Afrikaner sind sich ihrer Geschichte durch die Mythologie und durch ihre Traditionen durchaus bewusst. Über Kameruns Geschichte weiß man das eine oder andere seit dem späten 15. Jahrhundert - na klar, als die portugiesischen Plünderer und Händler kamen. Yaoundés Geschichte beginnt in der Tat erst im Jahre 1889, als deutsche Forschungsreisende und Militärs zu wissenschaftlichen und militärischen Zwecken die Jaunde-Station gründen. Die bald als Basislager für den Elfenbeinhandel dient - was die Schauspieler und Tänzer von OTHNI erzählen, erinnert stark an Joseph Conrads Herz der Finsternis. Antoine Effroy aber steht in Dortmund auf der Bühne und fühlt  eher mit Hamlet: Die Zeit sei aus den Fugen…   

Junior Moise Esseba und Edith Nana Tchuinang blicken auf das moderne Yaoundé. Auf Flüchtlingslager und eine grüne Mamba, Wellblechhütten und künstlich angelegte Blumenkübel. Auf ein paar Hochhäuser und ein totes Kino. Von dessen Geschichte werden wir später hören: Von der Schließung der Lichtspielhäuser auf Befehl der kamerunischen Regierung - und von der kamerunischen Erstaufführung des erfolgreichsten Films des großen Sohnes des Landes James Camero(u)n: Titanic. Welch ausgelassene Feier die kamerunische Bevölkerung aus Anlass dieser Filmpremiere inszenierte, führen uns die afrikanischen Schauspieler eindrucksvoll vor.

Ganz assoziativ geht diese Aufführung vor: Mitten in der Erzählung über den Film und das Kino klettert einer der Schauspieler über die Leinwand, die nicht nur das kamerunische Lichtspielhaus symbolisiert, sondern auf die unterschiedlichste Weise von dem Videokünstler Nils Voges bespielt wird. „Da ist schon wieder einer“, heißt es. „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die Bundesregierung ausgerechnet hat, dass mit Blick auf die Landesgröße und die Bevölkerungszahl mehr als 65.000 Flüchtlinge im Jahr nicht zu schaffen sind.“  - So lappt die Aufführung hin und her, zwischen Deutschland / Europa und Kamerun / Afrika, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Zwischen bitterer Ironie („Alles ruhig. Kleiner Zwischenfall auf einer Insel in Italien.“ - „Lampedusa?“ - „Genau. Aber sonst alles ruhig.“) und sprudelndem Temperament.

Clownesk, mit shakespeareschem Humor wird die Szene der Ankunft des afrikanischen Ehepaares in Deutschland gespielt: Da werden die afrikanischen Reisenden bis aufs letzte Hemd kontrolliert, während Europäer einfach durch die Kontrollen marschierten - „c’est normal“, sagen die längst akklimatisierten Afrikaner aus Europa. Da rast der Taxifahrer mit einem Affenzahn in die Stadt, so dass dem Neuankömmling schlecht wird - „c’est normal.“ Da gibt es „eine Straße für Autos, eine Straße für Fahrräder, eine Straße für Fußgänger und eine Straße für Hunde“, da bleiben die Leute um ein Uhr nachts an der roten Fußgängerampel stehen, obwohl die Straße ganz leer ist - c’est normal, doch David Guy Kono ist genervt. Hundefutter im Supermarktregal direkt neben Lebensmitteln - das ist für David aus Kamerun endgültig ein No Go. -  Kulturunterschiede, diesmal von der heiteren Seite aus gesehen. „C’est normal“ - das war zuvor auch die Reaktion der Afrikaner auf das Klagen der Deutschen über Hitze, Korruption, Dreck und Chaos in Yaoundé gewesen: Antoine Effroy, der Franzose in der Truppe, weiß sehr wohl die Gegenposition zu David aufzumachen.

Diese Kulturunterschiede stellt die kamerunische Truppe mit dem deutschen Regiekollektiv offensiv aus: Schon beim Einlass ins Parkett hört der Zuschauer, wie sich die kamerunischen Schauspieler mit großer Lautstärke für die Aufführung aufputschen und rhythmische Szenen durchspielen. Man hört von manchem deutschen Schauspieler, dass er Stunden vor der Aufführung keinerlei Ansprache durch fremde Menschen mehr erträgt … Viele Szenen erinnern an Aufführungen von Gintersdorfer/Klaßen und ihrer ivorischen Truppe, deren lauten, temperamentvollen, sprunghaften Stil wir hier wiedererkennen und die uns in einer ihrer Aufführungen („Erleide meine Inspiration“, 2010) einmal erzählten, in Abidjan müsse ein guter Pastor agieren wie ein Discjockey: Genau so ist auch die Aufführung der Jungs und Mädels aus Yaoundé: pulsierend, stampfend, bar jeder westeuropäischen Gelassenheit. Es wird getanzt und mit beeindruckender Akrobatik geturnt, da werden auch schlimmste Beschreibungen zu fröhlich anmutenden Gesängen abgeliefert, aber wenn zum Beispiel von den dunklen Seiten der Stadt Yaoundé erzählt wird, hören wir auch nervöse Rhythmen und beschwörende Sprechweisen.

kainkollektiv/OTHNI ist Gintersdorfer/Klaßen für Fortgeschrittene: Inhaltlich und ästhetisch ist Fin de Machine breiter und differenzierter angelegt, in seiner Collagetechnik allerdings auch auf den ersten Blick verworrener, schwieriger zu durchschauen. Gegen Ende laden uns die Akteure auf die Bühne ein zu Bier und Cola und Tanz. Während wir schon feiern, beginnt eine „Konferenz auf dem Mond“ zur „Welt der Mvett“, einer Legende aus dem 15. Jahrhundert. Vielleicht ist es ja das Land dieser Legende, vielleicht ist es Kamerun oder Deutschland, das mit dem in der Aufführung zitierten Vers aus dem berühmtesten aller Hamlet-Monologe gemeint ist: „das unentdeckte Land, aus dessen Gauen kein Wand’rer wiederkehrt.“? Unentdeckt und doch voller Faszination jedenfalls sind beide Länder für die Bewohner des jeweils anderen - wenn man sie mit offenen Augen und ausreichendem Abstand von der eigenen Wahrnehmung durchstreift. Diese Botschaft ist angekommen!