Übrigens …

Gift. Eine Ehegeschichte im Schauspielhaus Düsseldorf

Der männliche und der weibliche Weg, die Trauer zu verarbeiten

„Wir sind ein Mann und eine Frau, die ein Kind verloren haben. Danach haben wir uns selbst verloren. Und dann haben wir einander verloren.“ Mit diesen kurzen Sätzen bringt „Er“ auf den Punkt, was die Beziehung zwischen „ihm“ und „ihr“ letztendlich zerstört hat. Es ist der Schlüsselsatz in dem Erfolgsstück der niederländischen Autorin Lot Vekemans, und es ist der Schlüsselsatz in der ersten eigenen Inszenierung des Intendanten Günther Beelitz am Düsseldorfer Schauspielhaus. Es ist der Satz, mit dem der Frau nach zehnjähriger Trauer aufgeht, dass Veränderung nottut - auch eine Veränderung in der Einstellung zu ihrem Leben.

Zehn Jahre war die Frau in ihrer Trauer verharrt. Sie waren eine ganz normale Familie gewesen, sie, der Mann und der gemeinsame Sohn. Dann wurde der Sohn bei einem Unfall getötet. Einige Zeit später packte der Mann seinen Koffer und verließ das Haus, um nicht mehr wiederzukehren. Die Frau weiß es noch genau: Es war am Silvesterabend des Jahres 2004 um 19.10 h. An diesem Tag, um diese Uhrzeit blieb die Zeit für sie stehen.

Nach zehn Jahren trifft sie ihren Mann wieder: auf dem Friedhof, auf dem der Sohn begraben liegt. Der Boden sei kontaminiert, heißt es, man habe Gift gefunden, und nun sei eine Umbettung der Toten erforderlich. Deshalb hat man ein Treffen der Angehörigen der Toten arrangiert. So steht es zumindest in dem Brief, den der Mann erhalten hat. Doch die Eltern von Jacob bleiben allein an diesem Tag. Kein anderer Angehöriger, kein Angestellter der Friedhofsverwaltung lässt sich sehen. Das Treffen, so wird sich nach und nach herausstellen, war fingiert worden: von der Frau, die endlich wissen will, warum ihr Mann sie damals verlassen hat. Die ihre Verkapselung in der Trauer nicht mehr aushält.

Alexander Müller-Elmau hat für die Inszenierung eine ganz einfache Bühne ins Kleine Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses gebaut: Ein Feld mit welkem Laub und Friedhofsblumen ist in den Bühnenboden eingelassen; dahinter stehen drei Bänke. Rechts daneben befindet sich ein etwas deplatziert wirkender Kaffeeautomat und ein Wasserspender. Karin Pfammatter und Andreas Grothgar fühlen sich sichtbar unwohl bei ihrem Wiedertreffen zehn Jahre nach einem offenbar weitgehend wortlosen Ende, stammeln und treten verlegen von einem Bein aufs andere. In unnatürlich großem Abstand voneinander versuchen sie krampfhaft, ein Gespräch aufzubauen. Auf der Bank klafft zwischen ihnen eine große Lücke, in der die Frau ihre Handtasche platziert hat - noli me tangere! Unbeholfen wirkt das - unbeholfen soll es auch wirken, und doch scheint es ein wenig überspielt, fehlt ein wenig Authentizität. Das ändert sich, je mehr sich die beiden Figuren einander annähern - nicht so sehr emotional als vielmehr im Bemühen um gegenseitiges Verständnis.

Sie fühle sich „angespült“, sagt die Frau zu Beginn des Friedhofs-Treffens. Nun, beim Anspülen hat sie erheblich nachgeholfen: „ausgespien“ wäre wohl das richtigere Wort. Eine - zumindest vorübergehende - Tablettensucht wird angedeutet. Das Gift, das angeblich den Friedhof bedroht, hat sie selbst in sich: das Gift einer tiefen Verbitterung, die sich bei Karin Pfammatter gelegentlich in Zickigkeit, häufiger noch in triefender Ironie äußert. Und trotz aller Bemühungen um Selbstkontrolle in gelegentlichen emotionalen Ausbrüchen, die ihr geradezu halsstarriges Verharren in der Trauer aufdecken: „Ich hasse Glück! Ich hasse glückliche Menschen!“ - Worte des Verflossenen werden auf die Goldwaage gelegt, Metaphern überhöht - alles wird dem Ziel untergeordnet, sich zu beweisen, dass Welt, Menschen und wohl auch Gott böse sind. Die „Frau“ zeigt, wie viele weibliche Zuschauer nach der Premiere sagten, die typisch weibliche Reaktion auf das größtmögliche Unglück, das Eltern betreffen kann: Sie verbietet sich, wieder glücklich zu werden.

Mann sieht das pragmatischer. Mann hat nicht besonders feinfühlig gehandelt, als er am Silvesterabend die Tür des ehelichen Heimes auf immer hinter sich zuschloss, aber es war der Versuch einer Befreiung. Einer Befreiung, die im gemeinsamen Eheleben wohl keine Akzeptanz gefunden hätte. Mann hat in Lot Vekemans‘ Stück zunächst zu sich selbst und dann zu einem neuen Glück gefunden: Er ist seit Kurzem wieder verheiratet, wohnt im klimatisch angenehmen Südfrankreich, und seine neue Partnerin ist schwanger: neue Schicksalsschläge für die Frau, an denen sie schwer zu kauen hat. Mehrfach wird deutlich, wie sehr auch der Mann am Verlust seines Kindes gelitten hat. Auch er wurde destabilisiert durch diese Erfahrung, aber er hat sich dagegen gewehrt. Und im Laufe des psychologisch fein gesponnenen Stücks ist er mehr und mehr in der Lage, seiner Exfrau sein Verhalten verständlich zu machen: Er und sie sind eben nicht „zwei Schiffbrüchige an einer Boje“, wie es einmal heißt: er hat sich losgerissen und ist zum Ufer geschwommen. Und von dort vermag er bei seiner Ex-Frau den Gedanken daran zu wecken, dass weiteres Verharren in eine Sackgasse führt.

Schauspielerisch hat es dieser restabilisierte Mann schwerer zu überzeugen als die emotionalere Frau, der Vekemans diese wunderbaren zynischen und ironischen Sätze geschrieben hat. Andreas Grothgar verbleibt über die gesamte 90minütige Spieldauer im gemäßigten, manchmal ein wenig zu kontrollierten Kammerspiel-Ton. Anker für unsere Aufmerksamkeit ist daher zumeist Karin Pfammatter. Dagmar Manzel wurde für diese Rolle in der Deutschen Erstaufführung des Stücks am Deutschen Theater Berlin für einen der wichtigsten deutschen Theaterpreise, den Faust, nominiert - sie muss in ihrem Text noch mehr gefunden haben als dies dem Regisseur Günther Beelitz und seiner Protagonistin in Düsseldorf gelungen ist: mehr Zwischentöne vor allem, mehr Geheimnis auch. Denn in Düsseldorf wissen wir schnell, wo der Hase lang läuft - lang gediente Ehepaare nicken zustimmend mit dem Kopf und finden sich (und hoffentlich auch einander) wieder, aber wirklich neue Erkenntnisse liefert die Inszenierung nicht. Denn sie ist wie das Stück: sehr konventionell, ja: geradezu altmodisch.

Das ist nicht unbedingt ein Nachteil. Vor allem die weiblichen Zuschauer schwärmten nach der Premiere, dass sie lange nicht mehr ein so sensibles, berührendes Stück gesehen hätten. Seine psychologische Genauigkeit besticht - bisweilen fühlt man sich (auch in der Machart des Texts) an Vekemans‘ niederländische Kollegin Judith Herzberg erinnert. Mehr noch - zumindest in der Hälfte des Abends - an die Lakonie eines Jon Fosse, die die Düsseldorfer Schauspieler jedoch nicht optimal herausspielen. SPIEGEL online nörgelte nach der Berliner Erstaufführung, es werde nicht klar, warum dieser zweifellos gelungene Text eigentlich auf die Bühne gehörte. Diese Frage hat auch die Düsseldorfer Aufführung nicht beantworten können - er wirkt als Lesedrama mindestens ebenso intensiv wie als Schauspiel. Aber wenn er denn schon mal auf der Bühne zu sehen ist, dann gehen wir auch hin…