Sex gegen Marmeladenbrote
Drei Männer im KZ Sachsenhausen. In grauer Häftlingskleidung. Mit großen, gut leserlichen Identifikationsnummern. Bei dem einen ist sie in gelber Schrift, bei dem zweiten in Rosa, bei dem dritten in Grün. Gelb steht für Jude, Rosa für Schwul, Grün für Kriminell. Der Kriminelle ist der Kapo - der Gefangene, der für Ordnung sorgen soll unter den Mitgefangenen und der dafür ein paar Privilegien genießt. Er ist selbst eine arme Sau, aber das bisschen Macht, das er über die anderen hat, nutzt er für Schikanen und Beleidigungen.
Auch der Jude hat ein paar Privilegien. Benjamin ist Uhrmacher: Er repariert die kaputten Uhren, die den KZ-Insassen bei ihrer Einlieferung weggenommen wurden. Beutekunst für KZ-Aufseher. So ist zumindest einstweilen Benjamins Überleben gesichert. Hans ist der Schwule. Ihm droht das Zementwerk, das man höchstens ein paar Monate überlebt. Oder die medizinische Versuchsanstalt, die noch größere Risiken birgt. So gibt sich Hans, der nicht einmal den Glasdeckel über dem Zifferblatt abgefummelt kriegt, als Uhrmacher aus, um seine Überlebenschancen zu erhöhen. Und wird Benjamin in seiner Werkstatt zugeordnet.
Da sind sie nun: die „Judensau“ und der „Arschficker“, wie der Kapo die beiden beschimpft. Hans und Benjamin würden es weniger vulgär ausdrücken, aber sie denken dasselbe. Große Vorurteile, tiefe Aversionen haben sie gegeneinander - Benjamin gegen den Schwulen mehr als Hans gegen den Juden. Auch charakterlich sind Benjamin und Hans so grundverschieden wie zwei Menschen nur sein können. Wie … Puccini und Verdi zum Beispiel, über die sich die beiden Musikliebhaber schnell in die Haare kriegen. Verdi passt mehr zum Uhrmacher - beide sind eher Knüsterer und Techniker. Johannes Brinkmann gibt den Benjamin an der Essener Studio-Bühne mit sonorer Stimme als introvertierten, wortkargen Stoiker. Er leidet nach innen - erst nach langer Zeit erfahren wir, was ihn am meisten belastet: die Ungewissheit über das Schicksal seiner Familie. Michael Steinhorsts Hans ist der Unpraktischere, aber Pragmatischere von beiden. Er versteht es, sich mit fast jeder Situation zu arrangieren - muss es wohl auch, denn außer seiner Homosexualität verfügt er über keine kriegswichtigen oder lagertauglichen Differenzierungsmerkmale, die ihn für das nationalsozialistische Schreckenssystem nützlich erscheinen lassen.
Außer seiner Homosexualität? Nun, die wäre in Sachsenhausen zweifellos ein Grund für beschleunigte Vergasung, aber Hans vermag sie zu nutzen: Bei einem anderen Kapo handelt er mit Sex gegen Marmeladenbrote. Und: gegen Informationen. Zum Beispiel über den Verbleib von Benjamins Familienmitgliedern. Diese Informationen kann er dann bei seinem abweisenden Werkstattzellengenossen gegen zumindest rudimentäre Uhrmacherkenntnisse eintauschen. Und so bildet sich ganz, ganz langsam ein Vertrauensverhältnis und schließlich sogar eine Freundschaft zwischen dem schwulen Hans und dem Juden Benjamin heraus. Die sogar hält, als die Geschichte eine gefährliche Wendung nimmt.
Der junge New Yorker Dramatiker Dan Clancy ist mit seinem Stück Hüter der Zeit ein Wagnis eingegangen, zu dem im deutschsprachigen Raum bis vor wenigen Jahren allenfalls George Tabori den Mut hatte: ein Holocaust-Stück mit viel, viel Humor zu erzählen. Allerdings ist Clancy kein Tabori. Allenfalls in Ausnahmefällen gelingen ihm ähnlich atemberaubend subversive, doppelbödige Scherze wie sie der verstorbene große ungarisch-britisch-deutsche Theatermacher aus dem Ärmel schüttelte. Als die Opernfreunde beschließen, für eine von der Lagerleitung zur Irreführung einer neutralen finnischen Evaluierungskommission inszenierte Festivität ein paar Arien einzustudieren, träumt Hans spottend von weiteren Auftritten: „Benjamin und Hans - jetzt auch in Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen!“ - Das hat Tabori-Qualitäten. Es wäre eine Lüge zu behaupten, das Lachen bliebe einem im Halse stecken: Man wiehert laut auf. Und schämt sich darüber, um sich dann endgültig über die Political Incorrectness zu freuen. Das ist von Stephan Rumphorst effektvoll inszeniert und von Michael Steinhorst mit perfektem Gespür für Timing gespielt.
Die meisten Pointen wirken jedoch vor dem Hintergrund des grauenvollen Holocaust-Geschehens etwas zu brav. Andererseits hat die Inszenierung aber auch eine Vielzahl sehr berührender Momente. Die Studio-Bühne hat die Inszenierung in Kooperation mit dem Antidiskriminierungsprojekt „Schule der Vielfalt“ erarbeitet und bietet sie als Jugendstück für ein Publikum ab 16 Jahren an. Erkennbar haben sowohl der Autor als auch der Regisseur den Schwerpunkt auf die Homosexuellen-Komponente gelegt. Das ist selbstverständlich legitim, birgt aber - insbesondere bei der nachgerade komödiantischen Anlage der Figur des Hans - die Gefahr, dass die Grauen des Konzentrationslagers verharmlost werden. Sechzehnjährige können da ohne Frage erheblich mehr an historischer Wahrheit vertragen als es ihnen in diesem Jugendstück über Freundschaft und Toleranz bei unterschiedlichen sexuellen und religiösen Orientierungen zugemutet wird. Trotz des bedrohlichen offenen Endes werden nur wenige Schüler diese Aufführung verlassen und noch längere Zeit den Gedanken an den Holocaust mit sich herumschleppen.
Dennoch wird die Inszenierung in dem charmanten kleinen Essener Amateur-Theater ihren Weg machen: für Schulklassen, aber auch als Familienstück. Neben der Schwulen-Problematik gibt es für Lehrer, Schüler und Eltern eine Menge anderer Aspekte zu besprechen, denn viele historische Wahrheiten werden in dem Stück durchaus angedeutet: dass es ein Ranking der Konzentrationslager bezüglich ihrer Grausamkeit gab zum Beispiel. Über die Existenz und Funktion von Kapos sowie von Privilegien für Häftlinge mit besonderen Skills können die Jugendlichen etwas erfahren, über die - in diesem Falle nur anlassbezogenen - künstlerischen Darbietungen durch die Insassen des KZs. Und wenn Benjamin angesichts der Erfahrungen seiner Glaubensgemeinschaft im Nationalsozialismus den Glauben an Gott verliert, bekommt das Stück sogar eine klitzekleine existenzialistische Note. Die drei Schauspieler machen ihre Sache hervorragend: Den Unterzeichner beeindruckte insbesondere Johannes Brinkmann als stiller Brüter; die Jugendlichen werden vor allem den manchmal reichlich kindisch agierenden Michael Steinhorst lieben, den gutmütigen, zwischen Schlagfertigkeit und Naivität changierenden und das Klischee des Sprach- und Bewegungsrepertoires eines Schwulen perfekt beherrschenden Hans. Sebastian Hartmann als Kapo hat nur kurze Auftritte, überzeugt aber als ungerührter, kaum Empathie mit seinen Mitgefangenen zeigender Trumm.