Postoriginelles Theater
Irgendwann ereilt einen jeden Theater-Freak dieses Schicksal: Er hat fast alles schon gesehen. Neue Theater-Ästhetiken, neue technologische Anwendungen, neue Interpretationsversuche: alles Fehlanzeige. Wer seine Theaterbesuche breit anlegt im Hinblick auf Stücke, Projekte, Produktionshäuser und Regisseure, den überrascht so schnell nichts mehr. Und wer dann auch in fortgeschrittenem Alter immer noch diesen unstillbaren Hunger nach Innovationen hat, der findet sich immer häufiger unter halb so altem Publikum bei den Festivals der Freien Szene ein. Bei FAVORITEN zum Beispiel, dem Bestentreffen der Freien Szene aus NRW, oder bei west off, zu dem die drei Rheinschienen-Produktionshäuser Theater im Ballsaal Bonn, Forum Freies Theater Düsseldorf und Studiobühne Köln in diesem Jahr jeweils eine innovative Erfolgs-(?)Produktion und eine Neuinszenierung beisteuerten. In der Freien Szene gibt es das noch: unversehens stößt man auf das bislang Ungesehene und staunt. Manchmal rockt das. Und manchmal sieht man junge Künstler auf Irrwegen.
Meat Market will die Frage nach dem „Marktwert des eigenen Körpers in Relation zum jeweiligen Umfeld“ stellen. Fleisch: „we touch it, we eat it, we fuck it, we like it“, schreiben die drei TRIPLETRIPSter Theresa Hupp, Nikos Kontantakis und Markus Tomczyk zu ihrer Performance. Und zitieren dann, zu eat immer, zu fuck eher in Fällen fehlgeleiteter Lüste passend, das Lebensmittellexikon: „Fleischteile mit intra- und intermuskulärem Fett und einer gleichbleibendem Marmorierung bleiben beim Garen schön saftig und zart.“ Oder die SZ: „Normcore bewegt sich weg von der Coolness, die darin liegt, sich von anderen zu unterscheiden, hin zu einer Post-Originalität, in der man sich für Gleichheit entscheidet.“
Post-Originalität - das trifft es, was die Performance des kleinen Kölner Ensembles ausmacht. Wenn postdramatisches Theater ein Theater meint, das den Status des konventionellen Dramas hinter sich gelassen hat und seine Originalität aus anderen Performance-Elementen als dem reinen Text erzielt, so scheint postoriginelles Theater allerdings den sich nicht mehr einstellenden unterhaltsamen Effekt der Originalität nicht durch dramatisches Geschehen kompensieren zu können. Meat Market - ebenso wie die ebenfalls bei west off gezeigte und zu FAVORITEN 2014 eingeladene Produktion von Lukas und das Untier - sind zwar kurz, verlangen dem Publikum aber dennoch ein Höchstmaß an Geduld ab. Denn bei beiden passiert lange Zeit: nichts.
Normcore dominiert Meat Market: Gleichheit zwischen den drei Performern, die sich doch angeblich auch um Alleinstellungsmerkmale bemühen und Wettkämpfe austragen „um die gewinnbringende Positionierung des eigenen Fleisches“. Die drei Performer tragen gleichartige schwarze Trikots; später streifen sie gelegentlich rosafarbene Jacken über, legen sie wieder ab und ziehen sie in zweckentfremdeter Form wieder an. Mit Klebestreifen ist eine Art Laufsteg auf dem Bühnenboden markiert, auf dem die beiden Männer unablässig auf und ab laufen - in marginal veränderten Posen, mit marginal veränderter, aber meist keineswegs ins Werbende, Attraktive tendierender Mimik. Da wird mal die Einstein-Zunge herausgestreckt, mal der Mund und mal die Schulter verzogen, da wird mit den Augen gerollt oder ein stierer Blick ins Publikum geworfen - und immer im selben Tempo auf dem Laufsteg posiert. Attraktiver sind da schon die zunächst zeitlupenartigen, später etwas schneller werdenden tänzerischen Bewegungen von Theresa Hupp neben der Showfläche: Manchmal scheint sie antike Skulpturen nachzubilden, manchmal Posen aus dem klassischen Ballett, manchmal Bilder aus dem Milieu. Rien que ça: 15 Minuten lang. Dann gesellt sich die Frau zu den beiden Männern. Weitere 15 Minuten lang. Dazu läuft vom Band eine monotone, ganz langsam anschwellende elektronische Music for Installations.
In seiner Monotonie wirkt das nicht einmal wie ein ironischer Kommentar zu Modenschauen oder zum Zurschaustellen von Körpern, auch wenn später einmal die Männer ihre durchtrainierten Oberkörper zeigen oder eine skurrile Kopfbedeckungs-Show zum Schmunzeln verführt. Die Mittel, mit denen hier mit dem exhibitionistischen Körperkult oder mit dem Voyeurismus der Zuschauer gespielt wird, sind minimalistisch bis zum Verschwinden; ebenso die Veränderungen der Bilder. Gemeinsam mit der Musik trägt das eine Weile, verwirrt auch - und dann wiegt man sich als Zuschauer doch lieber in Morpheus Armen. Und freut sich, wenn Markus Tomczyk nach 40 Minuten endlich zu reden anhebt. Er bietet Kinder wie Salat feil, wie Haustiere oder Körperpflegemittel - man fragt sich nach einer Weile, was da eigentlich verkauft wird, Menschen, Tiere, Adler oder Rebhühner, vermutet, dass das provozieren soll und freut sich erneut: als Nikos Konstantakis seinem Mitspieler endlich den Mund mit Klebeband zusperrt.
Als Aufforderung zum - diesmal seelischen - Exhibitionismus mag dann auch noch das Fragespielchen à la Proust gemeint sein („What is your greatest fear?“ - „What is your motto?“ etc.) Allzu erkenntnisfördernd ist das alles nicht. Aber es gibt dann doch noch eine Szene, in der die Geschlechter umeinander werben - die Frau mit hochhackigen Schuhen und die Männer mit einem Muscle Show Dance, und schließlich dürfen die Performer auch noch zeigen , was sie tänzerisch drauf haben - und das ist eine ganze Menge. Nach sechzig Minuten ist Schluss. „Ein redundanter, verwirrender Informationsfluss“ sollte uns vorgestellt werden. Na ja, insofern ist das ja gelungen.
Dank der elektronischen Musikbegleitung und der Körperlichkeit der Darstellung hat die Monotonie der TRIPLETRIPS Performance vorübergehend atmosphärische Momente, denen man sich eine Weile hingeben kann. Das Originellste der Performance der Düsseldorfer Gruppe Lukas und, die ebenfalls im Rahmen von west off in Bonn, Düsseldorf und Köln zu sehen ist, ist dagegen der Titel: Lukas und das Untier heißt das Ganze, und man weiß nicht so recht, wo der Name der Gruppe aufhört und der Name der Performance beginnt. Das Rätsel ist schnell gelöst: Lukas ist der Hund, und das „und“ sind die fünf Performer um ihn herum: 4 D, 1 H, die gemeinsam am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiert haben, wahrlich einem Hort des postdramatischen Theaters. Dem entspringen einige der schrägsten Avantgardegruppen dieser Republik - der Schreiber dieser Zeilen gerät stets ins Schwärmen, wenn er an die hinreißenden ersten Jahre von „Monster Truck“ denkt. Bei denen war bannig was los auf der Bühne; ob das bunte Bildertheater immer einen tieferen Sinn hatte, mag bezweifelt werden, aber es nahm einem den Atem.
Wenn man in der Vorankündigung liest, bei dem Untier würden tektonische Verschiebungen der Grundfesten unseres Selbstverständnisses ausgelöst und Ordnungen gerieten in Bewegung, erwartet man vielleicht Ähnliches. Und sitzt dann zwei jungen Damen gegenüber, die dem Zuschauer vor geschlossenem Vorhang immer uninteressantere und zusammenhanglosere Aussagen über ihren Freund aufdrängen. Der esse zum Beispiel gern Käse oder habe Haare am Penis - „genau jetzt“. Das könnte der Hund sein, also das Untier - er ist es aber nicht. Also warten wir auf den Clou der Geschichte. Wir warten noch heute, aber immerhin öffnet sich nach 15 Minuten der Vorhang.
Ab und zu guckt Lukas mal vorbei. Eine Funktion hat der nicht, aber er bellt, als vom Bühnenhimmel Hunderte von roten Bällen herunterfallen. Unendlich langsam hatte sich eine Art Bühnenbild hereingeschoben, das dann ebenso langsam wieder abgebaut wird. Die versprochene Gegenüberstellung von Mensch und Tier bleibt aus. Da Lukas kein Untier, sondern nur eine sympathisch phlegmatische Promenadenmischung ist, treten die Performer nun mit Untier-Masken auf. Alle Zuschauer werden auf die Bühne gebeten, bekommen einen Ball in die Hand gedrückt und stehen sehr, sehr lange herum wie Falschgeld. Dann werfen sie ihren Ball von sich. Lukas ist längst auf und davon. Die Performer verschwinden dann auch bald.
Kurz ist der Abend, aber ungeheuer langatmig. Postoriginell halt. Und redundant. Wie man mit Postdramatik und installativem Theater für magische Momente von höchster Originalität sorgt, demonstrierten beim FAVORITEN-Festival Ben J. Riepe mit seiner White Void # 14 und die Gruppe SEE! mit dem hinreißenden PeterLicht-Wortkonzert Ok, Panik Es waren Aufführungen von grandioser Innovationskraft. Aber wer sowas erleben will der muss halt auch bereit sein zu leiden. In der Freien Szene sind die Ausschläge stärker - bei Höhen und bei Tiefen …