Apokalypse in Disneyland
„Seit … zwei Jahrzehnten flüchten sich seine Figuren zwischen Leistungsdruck und Kontrollverlustangst in eine Art depressive Duldungsstarre“, schreibt Eva Behrendt in der aktuellen Ausgabe von Theater heute. Das charakterisiert Falk Richters vor sieben Jahren uraufgeführtes Drama einer privilegierten Familie, die sich Im Ausnahmezustand befindet, recht gut. Richter, damals gerade ziemlich gehypt, inszenierte sein Stück höchstselbst an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin. Die gesamte überregionale Presse reiste an und äußerte trotz Anerkennung großartiger schauspielerischer Leistungen von Bibiana Beglau und Bruno Cathomas einhellig ihr Missfallen. Ein Nachspiel drei Jahre später am Schauspielhaus Salzburg floppte. So galt das Stück als gescheitert: Es biete nichts Neues, hieß es, es sei zu flach und bleibe dem Zuschauer merkwürdig fern. Auf den Tag genau sieben Jahre nach der Uraufführung versucht sich das Schlosstheater Moers an dem kleinen dramatischen Werk. Catherine Umbdenstock inszeniert es in der kaum 40 Zuschauer fassenden Kapelle an der Rheinberger Straße. Dort hat kein Stück die Chance, dem Zuschauer fern zu bleiben. Die Schauspieler rücken einem ganz eng auf die Pelle. Besonders eindrucksvoll gelang dies vor zweieinhalb Jahren dem Quartett aus Wer hat Angst vor Virginia Woolf?. Im Ausnahmezustand gibt es Momente, die an Edward Albees gnadenloses Ehedrama erinnern.
„Die Frau“ und „Der Mann“ leben mit einem „Sohn“ in einem Paradies. In einer Gated Community, in der es einen eigenen Flugplatz, aber keine Überfälle gibt und „keine verwirrten alten Menschen, die unentwegt nach dem Weg fragen, weil sie die Orientierung verloren haben.“ Im Gegenteil: Die anderen, die weniger Privilegierten von außen bleiben tot am Elektrozaum hängen, bevor sie Schaden anrichten können. Menschliche Kollateralschäden sind einkalkuliert. Die Opfer können auch mal die Freunde des Sohnes sein. Dass das die tiefe innere Emigration des Sohnes verstärkt, geht bei Mama und Papa in der eher oberflächlichen Sorge um dessen scheinbar vor allem pubertäre Anti-Haltung jedoch unter. Gelegentlich hört man Meeresrauschen - zwar hat man noch kein Meer, aber sobald die Genehmigung vorliegt, wird das Community Management das Meer umsiedeln. Einstweilen spielt man das Rauschen ein, weil es sich positiv auf die Stimmung auswirkt. Schon draußen vor der Spielstätte hatte uns eine Art Fußball-Maskottchen umarmt und auf eine schöne neue Welt voller harmlosem Disneyland-Vergnügen eingestimmt. Alles bingo also in CELEBRATION COMMUNITY.
Natürlich wird eine solche Luxus Community überwacht: Tag und Nacht, außen und innen, im Privat- und im Arbeitsleben. Leistungsauswertungen und -vergleiche, exakt bis auf die zweite Stelle hinterm Komma, können dazu genutzt werden, die Berechtigung zum Verbleib im Paradies in Frage zu stellen. Natürlich schüren Überwachung, strenge Sicherheitsvorkehrungen und der Genuss exklusivsten Luxuslebens Ängste. Und so wird Falk Richters Drei-Personen-Haushalt zu einem Ort, wo die Neurosen blüh’n. Am schlimmsten dran ist der Sohn, der aber nicht nur von Mama und Papa, sondern auch von Falk Richter die geringste Aufmerksamkeit bekommt. Für ihn liegen die Abenteuer draußen, im wilden Land außerhalb der schützenden Zäune. Seine Ausflüge in die reale Welt zeitigen, so legt das Stück unausgesprochen nahe, besagte menschliche Kollateralschäden. Den völlig gestörten und wohl auch traumatisierten Sohn gibt Patrick Dollas in Moers mit grauslicher Intensität.
Mutter („Die Frau“) ist die spannendste Figur des Stückes. Auf der coolen Edelstahl-Küchenzeile, die Elisabeth Weiss‘ Bühne dominiert, steht ein Pillenröhrchen, und der weiche Flokati im Wohnbereich wärmt Maresa Lühle auch als flauschiger Umhang nicht mehr. Mit ihrer Paranoia zerstört „Die Frau“ die ganze Familie. Am Überwachungssystem nimmt sie selbst anscheinend aktiv teil. Anscheinend - oder scheinbar? Angeblich verfügt sie über kritische Auswertungen des Arbeitgebers ihres Mannes über dessen Leistungen. Doch diese Frau steht ganz offenbar im Konflikt mit dem gängigen Realitätsbegriff. Was an ihren Aussagen stimmt und was nicht? Angeblich kommen auch „Leute durchs Abwassersystem oder lassen sich abwerfen aus der Luft“ … Das erscheint paranoid, aber an „Schüsse in der Nacht“ vermögen wir zu glauben. Das Meeresrauschen hört auch der Zuschauer - „Der Mann“ dagegen nicht … Regisseurin Catherine Umbdenstock und Dramaturgin Nicole Nikutowski lösen die Geheimnisse des Stücks nicht auf und schaffen so eine unbehagliche Atmosphäre.
Doch auch auf „Die Frau“ übt die Welt draußen vor den Zäunen eine eigenartige Faszination aus: Da draußen zum Beispiel gibt es noch „Männer, die gern ficken“ - im Gegensatz zu ihrem eigenen Mann. Dessen sie sich nicht mehr sicher ist - ihre neurotischen Störungen scheinen sich zumindest vorübergehend bis zu einer Art Capgras-Syndrom auszuweiten, dem Glauben, dass ihr Göttergatte durch einen Doppelgänger ausgetauscht wurde. Ist dieser Mann, der mit ihr lebt, im Bett ebenso wie im Büro mittlerweile eine Null? Welche Ursachen hat das - handelt es sich vielleicht nur um eine stress- oder altersbedingte Abnutzungserscheinung? Oder ist alles nur eine Einbildung der neurotischen Frau?
Keine Entwicklung habe das Stück, nörgelte die Theaterkritik nach der Berliner Uraufführung. Zumindest Frank Wickermann als „Der Mann“ zeigt in Moers sehr wohl eine Entwicklung. Zu Beginn wirkt er ganz normal, für eine Wickermann-Figur sogar erstaunlich ruhig und gelassen. Erst durch die Infragestellung und die Anwürfe der Frau verliert er Selbstbewusstsein und - gelegentlich - Contenance. Um schließlich doch eine verzweifelte Analyse des Lebens in diesem künstlichen Paradies zu liefern, in dem man miteinander Barbecues und Gartenfeste durchführt, zu Erziehungsberatungen und Lesezirkeln geht, aber keinen kennt. Die Frau berichtet derweil von ihrem heimlichen Besuch in der realen Welt, wo Räuber, Mörder und Vergewaltiger vegetieren und die Polizei auf unschuldige Menschen schießt …
Keine Entwicklung? Schon beim Lesen schnürt einem Richters suggestive Beschreibung der explosiven Idylle phasenweise die Luft ab. Unerbittlich schrauben sich in Catherine Umbdenstocks Inszenierung die Psychosen in die Höhe. Der Boden, auf dem diese Familie steht, gerät während der 100minütigen Aufführungsdauer mehr und mehr ins Wanken; die Schüsse, die man nicht hört, treffen die Insassen des Paradieses auf metaphorische Weise. Eindringlich setzt das Moerser Ensemble den wortgetreu inszenierten Text um und löst in der kleinen Kapelle wahre klaustrophobische Gefühle aus.
Wenn Falk Richter das Meer umsiedeln und die toten Hunde am Zaun hängen lässt, wirkt dies wie eine apokalyptische Zukunftsvision. Aber das Stück ist auch als satirische Kritik an der Gesellschaft von heute gedacht. Natürlich hat diese Kritik ihre wahren Seiten, aber so ganz geht sie nicht auf - zumindest nicht im Hinblick auf die Beutemuster von vielen deutschen Reichen und Schönen. Wer Menschen kennt, die bereits in einer solchen Gated Community gelebt haben - leben mussten, weil sie in Entwicklungs- oder Schwellenländern arbeiteten und um ihre Sicherheit fürchten mussten -, weiß, das dies kein Zuckerschlecken ist. Natürlich sind es vor allem die Kinder, die unter der Abschottung von der realen Welt leiden, aber ich kenne keinen Erwachsenen, der nicht lieber vor dem Zaun gewohnt hätte - wenn dies ohne Gefahr für Leib, Leben und … ja, natürlich auch Eigentum möglich gewesen wäre. Ein Disneyland ist das nicht. Insofern mag das Richters Stück im engeren Sinne als Gesellschaftskritik fehlgehen. Aber es ist eine brillante Komposition über Angstpsychosen, Traumata und gesellschaftliche Fehlentwicklungen, die überzogenes Sicherheits- und Statusdenken auszulösen vermögen. Wenn es denn je wirklich diskreditiert war, hat das Schlosstheater Moers das Stück mit dieser Inszenierung rehabilitiert.