Blaubart - Hoffnung der Frauen im Bochum, Schauspielhaus

Karawankenpanorama gegen Krokodillederimitat

„Über die Maßen“ kann er nicht lieben, der Heinrich Blaubart. Julia, die ihn nur 65 Minuten nach dem Kennenlernen heiratet, vergiftet sich deshalb. Da kennen sie einander gerade mal seit zweidreiviertel Stunden. - Anna, die zweite Frau, die sich in Blaubart verliebt, wird von Heinrich erwürgt, die dritte erstochen, die vierte erschlagen, die fünfte erschossen. Heinrich, mir graut vor Dir?

Na ja, nicht wirklich. Heinrich ist ein biederer Damenschuhverkäufer. Marco Massafra gibt ihn am Schauspielhaus Bochum ein wenig gehemmt, eher wie einen Spießer denn wie einen Serienmörder. Ein „gewaltiger Rittersmann“ mit „viel Geld und Gut“ und jeder Menge Leichen im Keller wie in Charles Perraults Märchen vom Ende des 17. Jahrhunderts ist er nicht, und er mordet auch nicht aus Grausamkeit, wenn seine Frauen seine Verbote überschreiten, sondern aus Überforderung: weil die Frauen etwas von ihm verlangen, dem er nicht gerecht werden kann: Liebe „über die Maßen“. Weil sie ihn, den Langeweiler und Unkreativen, als Projektionsfläche benutzen. Hübsch ist er ja, und ganz nett eigentlich auch. Ansonsten ein Mann ohne Eigenschaften. Nicht - wie für Anna - „Karawankenpanorama“ ist ein Lieblingswort des Schuhverkäufers, sondern „Krokodillederimitat“. Wie sagt schon vor dem ersten Dialog die Stimme der Blinden aus dem Off: „Man könnte meinen, es fehlte Heinrich an Fantasie“.

Erinnern Sie sich: „Heinrich oder die Schmerzen der Phantasie“ war eines der stärksten Stücke von Tankred Dorst, uraufgeführt im Jahre 1985 am Düsseldorfer Schauspielhaus. Dorst bezeichnet es als ein Durcheinander von Realität und Phantasie - ein wenig so könnte man Dea Lohers Stück ebenfalls beschreiben, wobei die Realität hier allenfalls als Verwirrspiel eindringt. Heinrich - so heißt auch Faust, der ebenso eine Minderjährige in den Tod treibt wie Blaubart seine Julia. König Heinrich VIII. hatte sechs Frauen wie Blaubart - die eine oder andere davon ließ er köpfen. Geköpft hat auch die biblische Judith den Belagerer Holofernes - das dritte Opfer Blaubarts heißt Judith. Seine Julia, von deren Projektion sich Blaubart im Verlauf des Stückes niemals lösen kann, vergiftet sich aus Liebe - das kennen wir von Shakespeare. Ein Horváth-Zitat entdecken wir, Motive aus „Lulu“ oder aus Schnitzlers „Reigen“, „Aschenputtel“ wird als Zeugin dafür aufgerufen, dass es vor der Erfüllung jedweder erotischer Träume heißen muss „Ruckedigu, Blut ist im Schuh“, und Regisseurin Selen Kara findet in Bochum eine schönes „Frau Holle“ Bild. Eva, Frau Nummer fünf, die den Namen des Inbegriffs alles Weiblichen trägt, wird von Heinrich erschossen - im Gegensatz zu seinem Namensvetter Faust tötet Heinrich auch, um nicht verführen zu müssen. Und Eva, diese ewige Verführerin, die uns alle das Paradies kostete, war bei Dea Loher selbst siebenmal verheiratet, siebenmal verwitwet. Die wird doch wohl nicht …?

Es ist eine unglaubliche Gemengelage an Bezügen, die Loher in ihrem Stück verwurstet, und lustvoll spielt sie damit - kehrt Zusammenhänge um wie beim Faust-Motiv oder bei Judith und Holofernes, verändert sie radikal wie beim titelgebenden „Blaubart“, ironisiert sie oder spielt sie einfach nur kurz an und lässt sie dann liegen. Nicht alles davon nimmt Selen Kara in ihrer nur 80 Minuten währenden Debüt-Inszenierung auf; die Namen der Protagonistinnen zum Beispiel werden nur zu einem geringen Teil überhaupt erwähnt. Doch auch Kara und ihren Schauspielern gelingt ein lustvolles Spiel. Loher schreibt ihrem Stück eine Nähe zur Tragödie zu; in Bochum dagegen verfolgen wir lange Zeit über vergnügt einen gelungenen Balance-Akt zwischen schwebend leichtem Surrealismus und Groteske. Dass es die Frauen sind, die Heinrich zum Mörder machen, wird bereits in der ersten Paar-Beziehung mit Julia mehr als deutlich: mit dem Wunsch nach dem „Über die Maßen“, mit dem von allen Frauen wiederholten, den Mann überfordernden Wunsch nach Verführung verleiten sie Blaubart auch zum Mord. ach und nach eskaliert die Lage: Blaubart will weitere Morde vermeiden; die Frauen werden rauer und aggressiver; zuletzt brechen sowohl Christiane als auch Blaubart in Gewaltphantasien aus, und Heinrich demoliert seinen Damenschuhverkäuferladen.

 Den Mann ohne Eigenschaften, den trockenen, phantasielosen Langeweiler spielen zu müssen, der sich erst zum Schluss ein wenig verändert, ist für Marco Massafra eigentlich eine undankbare Aufgabe, der er sich jedoch den Umständen entsprechend mit Bravour entledigt. Graduell steigert er von Szene zu Szene seine Unruhe und sein Unwohlsein mit seiner verbrecherischen Vergangenheit. Im Vordergrund dieser Inszenierung sowie von Dea Lohers Stück stehen die Frauen, und die werden - mit einer Ausnahme - von einer einzigen Schauspielerin verkörpert: Sarah Grunert kann aus ihren sechs sehr unterschiedlichen Frauenfiguren ein Bewerbungsvideo zusammenstellen: Insbesondere das kokette, pubertär drängende süße Mädl Julia und die verruchte osteuropäische Prostituierte Tanja gelingen ihr brillant - bei gleichzeitiger hinreißender ironischer Distanz.

 Sabine Osthoff gibt die rätselhafteste Figur des Stückes: die blinde Frau, die eine Konstante in Blaubarts Leben darstellt. Während alle anderen Frauen ganz in Weiß gekleidet waren, tritt sie in ihrer letzten Szene als eine Art schwarzer Witwe oder Rache-Fee auf. Sieben Jahre lang hat sie Heinrich geliebt; am Ende wird sie Heinrich töten, und damit tötet sie auch die Liebe. „Ich, die die Liebe tötet. Und das Verlangen danach. / Einmal, einmal nur den Himmel sehen“, ist ihr und der Inszenierung letztes Wort. Und da sind wir doch bei Melancholie und Tragödie.