Ist Wut eine Leidenschaft?
Zorn war immer ihr Antrieb, sagt die Neurophysiologin Alice Harper gleich zu Beginn in einem Interview. Der Originaltitel, „The Fury“, verweist somit gleich auf ein erst im Laufe der Handlung zur Sprache kommendes Ereignis aus Alices Jugend hin.
Joanna Murray-Smiths Stück ist ein „well made play“, wie die Engländer sagen. Ein Familienstück, zugleich ein Ehedrama, ein Psychothriller, zuweilen auch ein politischer Krimi. Worum geht es?
Alice und Patrick Harper sind seit über 29 Jahren verheiratet, ein gutbürgerliches, wohl situiertes Ehepaar. Alles scheint bestens. Sie ist eine erfolgreiche Neurophysiologin, die einen bedeutenden Preis bekommen soll. Er schreibt Romane und erntet viel Lob, ist aber finanziell erfolglos. Die beiden sind mit ihrem Leben und ihrer Einstellung dazu rundum zufrieden und schauen durchaus mal kritisch auf andere Paare herab, fest glaubend, nichts könne dieses Glück gefährden. Haben sie doch auch einen 16jährigen Sohn, auf den sie stolz sind und den sie doch mit so viel Liebe und Verständnis zu einem mündigen und toleranten Bürger erzogen haben. Doch dann beginnt sich diese heile Welt nach und nach aufzulösen. Joe hat, zusammen mit seinem Freund Trevor, eine Moschee mit Graffiti besprüht. Trevors Eltern – er arbeitet in einer Autofabrik, sie ist Friseuse – treffen sich mit Alice und Patrick, um sich auszutauschen. Schnell kristallisiert sich heraus, dass sie die Tat der Sprösslinge nicht gut heißen, sie aber dennoch verschieden einschätzen. Hausarrest sei eine sinnvolle Strafmaßnahme (Bob), ein politisch motiviertes „Hassverbrechen“ sehen sie aber in diesem „Dumme-Jungen-Streich“ nicht. Wohl auch wegen ihrer eigenen fremdenfeindlichen Einstellung. Bob äußert sich recht pauschal zu Muslimen: „Die steinigen ihre Frauen, alles Fanatiker“. Die Harpers jedoch sind fassungslos und pochen auf ihre Erziehung Joes zu einem „guten Menschen“ („Wir haben alles getan“). Joe erweist sich als stur („Du kannst mich nicht so hinbiegen wie du willst“) und als ebenso redegewandt wie seine Mutter. In seiner politischen Haltung scheint er Lichtjahre von ihr entfernt zu sein. Doch der Schein trügt. Joe beging seine Tat im Affekt, aus Zorn auf die weltpolitische Lage bzw. ihre Auswirkungen vor Ort: „Mir war danach“. Mehr Begründung erfahren wir nicht. Alice Harper beging auch aus Zorn eine politische Tat in ihrer Jugend, eine Tat aus Langeweile, aus Rebellion: „Wir waren beherrscht von einem unüberlegten antiamerikanischen Affekt, der sich authentisch und wichtig anfühlte“. Eine Tat, bei der ein Mensch getötet wurde. Auch wenn Patrick sich durchaus an diese radikale Zeit an der Uni, an den Glauben, die Welt verändern zu können, erinnert, so ist er doch entsetzt, als er von Alices Tat erfährt: „Wie konntest du?“ Alle immer sorgfältig unter den Teppich gekehrten Konflikte in dieser Ehe kommen hoch und lassen den perfekten Anstrich abblättern. Joe weiß letztlich um die Schuld seiner Mutter, verrät sie aber nicht der Journalistin, die mehr will, als nur ein Interview mit der Preisträgerin führen.
Tobias Maternas Inszenierung dieses Kammerspiels im kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses ist ein dichter, intensiver Abend mit einem großartigen Ensemble. Insbesonders eine hervorragende Franziska Walser überzeugt als intellektuelle Alice, die immer meinte, es richtig zu wissen und die sich von Schwierigkeiten nicht unterkriegen lässt. Im Gegenteil: Sie entwickelt ständig neue Strategien, um die Probleme zu lösen. Marcus Calvin als Patrick Harper ist gleichermaßen glaubwürdig als bemühter Vater, als zunächst zufriedener Ehemann, aber auch als von der Vergangenheit seiner Frau zutiefst entsetzter Mensch. Joe Harper – das ist Gregor Löbel. Gut seine Verkörperung dieses ach so coolen Typen der Oberschicht, der aus seiner latenten Ausländerfeindlichkeit kein Hehl macht. Pragmatisch stellt er fest, er wolle reich sein, um „Glück“ kaufen zu können.
Die Bühne – eine geschickt konstruierte Ansammlung von großen Würfelelementen, die schnell variiert werden können und so verschiedene Einblicke vermitteln – lenkt Konzentration der Zuschauer noch mehr auf das Geschehen, auf die zentralen Probleme von Schuld – Moral – Ethik – Vergebung.
Ein überaus fesselnder und bewegender Abend, den man nicht so schnell vergessen wird.