Krank vom Leben
Die Orangerie im Kölner Volksgarten ist Teil eines dringend renovierungsbedürftigen Festungsbauwerks aus preußischer Zeit. Das Gebäude war lange Zeit Wohnhaus des Gartendirektors, wurde immer wieder um- und ausgebaut, später für eine städtische Gärtnerei genutzt und diente danach zum Überwintern von Kübelpflanzen. Seit 1991 wurde es im Sommer – wenn die Kübelpflanzen im Freien standen – als Theaterhaus genutzt, ab 2000 ganzjährig. Ein rühriger Verein kümmert sich um die Restauration des Komplexes.
Zwangsläufig wirkt alles etwas provisorisch, die großen Fenster sind verrammelt, es ist kalt und zugig, der Putz bröckelt etwas - aber es ist eine perfekte Kulisse für ein rabenschwarzes Theaterstück über Selbstbemitleidung und Vorwürfe an die Außenwelt. Die Titelfigur „Mirko" ist eine ausgestopfte Puppe, die bereits zu Beginn auf der „Bühne" liegt, vor einer Art gesichtslosem Gebäude, einem mit Folie verkleidetem Lattengerüst (Matthias Demmer); man spielt auf dem nackten Fußboden, die Zuschauer sitzen auf einem Stufengerüst. Julius Richter blickt als Sounddesigner göttergleich von oben auf die Szene, steuert begleitende Geräusche und Hall bei und ist auch als Gitarrist auf hohen Hacken in einer Musiknummer aktiv.
Mirko hat seiner kettenrauchenden Freundin Nora, einer Türkin, ein Kind angedreht, hochschwanger kümmert sie sich um ihn, der sich nicht mehr bewegen will, der gefüttert und gewindelt werden muss. Ein totaler Pflegefall und eine sehr starke und überzeugende Leistung von Lisa Bihl, die ein totes Zwergkaninchen hinter sich herschleppt und ihre totale Verzweiflung heraushängen lässt.
Und ein Mann kommt nach Hause in die jetzt tote Stadt, die einst von einer Aromafabrik lebte. In der Kölner Inszenierung von Thomas Ulrich ist diese Rolle dreigeteilt, die Mitglieder der Acting Accomplices, einem Kölner Netzwerk Theaterschaffenden, die Brüder Jonas und Jean Paul Baeck und Marius Bechen, spielen in albern-bunten Anzügen den Berichterstatter, den Fragenden, den Agierenden, oder auch den Liebhaber und einen Außenstehenden, werfen sich gegenseitig die Bälle zu mit Lethargie und Zukunftsangst. Ihre Vergangenheit holt sie gnadenlos ein. Und sie spielen - mit nur wenigen Accessoires - auch die proletarischen und pöbelnden „Baschis" von der Mofa-Gang, die sie bzw. ihn früher verprügelt haben. Sehnsucht und Schuldgefühle kommen empor, Geld ist genug vorhanden, Nora wird immer noch geliebt, man will sich um ihr Kind kümmern; aber fraglich ist, ob dies nur aus Mitleid und ob des desolaten Zustands von Mirko geschieht.
Denn Nora ist hoffnungslos verzweifelt, auf der Beerdigung einer Freundin sinniert sie in ihrer Not, dass keiner sich um sie kümmert, dass alle nur nebeneinander leben und niemand Verantwortung tragen will. Auch hat sie den Freund als Immobilienhändler, der ein gutes Geschäft am Ausverkauf der Stadt gemacht hat, am Ende durchschaut.
Schlussendlich stirbt sie durch eine Treppensturz – artistisch über die drei Akteure als die einzelnen Stufen. Danach ist der kranke Mirko nur noch lästig, er wird „entsorgt“, noch lebendig verscharrt in der Hoffnung, dass es nicht auffällt. Mengen von Sand werden dabei hin- und hergeschaufelt. Kein schöner Ausgang.
Das anstrengende Stück beleuchtet böse, aber auch mit zahlreichen Slapsticks zum Entschärfen die vielfältigen menschlichen Facetten, die knisternde Spannung und das vorzügliche Ensemble hielt das vollbesetzt Haus gut zwei Stunden gebannt auf den Plätzen. Die nächste Aufführungsserie wird im kommenden Frühjahr gegeben, wie Jean Paul Baeck nach dem stürmischen Applaus verkündete; man solle doch bitte alle Freunde und Bekannte schicken. Das kann nur allzu gerne unterstrichen werden.
Zumal das Stück soeben den 25. Kölner Theaterpreis und die Baeck-Brüder den Kölner Darstellerpreis 2014 gewonnen haben; Henriette Westphal, die Laudatorin der Verleihung, sprach von einem „hinreißend-komisch-rasanten Abend, der direkt an den Abgrund der Menschlichkeit führt“.