Die Sache mit dem Hund
Und dann war da noch: die Sache mit dem Hund. Was steckt nicht alles in diesem Spätwerk des großen russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski: Kriminalroman und Familien-Tragödie, ironisches Gesellschaftspanorama und Komödie, theologisches und philosophisches Traktat. Es treten auf: drei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten; ihr Vater, der ein äußerst fragwürdiger Charakter ist; ein paar Frauen, die nahezu ausnahmslos durch einen ausgeprägten Hang zur Hysterie auffallen; ein Heiliger, der Starez Sossima, bei dem der jüngste der Brüder Karamasow als junger Mönch in die Lehre geht. Und viele, viele andere mehr. Es gibt einen Mord mit einem Gerichtsverfahren, das zu einem Fehlurteil führt; es gibt unglückliche Liebschaften und Betrügereien. Und unzählige Nebenhandlungen. Wie die Sache mit dem Hund. Zirka 1200 Seiten. Luk Perceval hat sie im April 2013 in einer beeindruckenden Inszenierung auf die Bühne des Thalia-Theaters Hamburg gebracht. Vier Stunden hat er gebraucht und mehr oder weniger das Wichtigste aus dem Roman erzählt. Die Sache mit dem Hund hat er weggelassen.
Thorsten Lensing benötigt in seiner Aufführung am Theater im Pumpenhaus ebenfalls knapp vier Stunden. Er lässt zwei der drei Brüder weg, den Vater auch, dessen Ermordung den Spannungsbogen des Romans hochhält, ebenso die meisten Frauen, den Mörder und den fälschlich Verurteilten. Und das Gerichtsverfahren sowieso. Vom Mord erfährt nur, wer vier Stunden lang außergewöhnlich konzentriert die Ohren spitzt. Aber der Hund, der ist die ganze Zeit über auf der Bühne. Und neben Aljoscha die Hauptperson der Inszenierung.
Wann je hat ein so hochkarätiger Schauspieler einen Hund verkörpert? André Jung ist es, der Mega-Star der Münchner Kammerspiele, der noch vor dem ersten gesprochenen Satz die Handtasche einer Zuschauerin beschnüffelt. Da ist er noch Shutschka, der treue Begleiter des untreuen Iljuscha Snegirjow, eines neunjährigen Lausbuben, Underdog in der Kleinstadt-Community, weil aus einer verarmten Familie kommend und unheilbar krank. Die Gemeinheit spricht Iljuscha aus dem Gesicht, als er dem Hund eine Wurst zu fressen gibt, in die er zuvor eine Nadel steckt. (Später wird dieser Iljuscha unser ganzes Mitleid bekommen.) Wie André Jung sich voller Vertrauen an Iljuscha schmiegt, um dann mit blankem Erstaunen und unfassbarer Traurigkeit an der Wurst zugrunde zu gehen - das ist keine Verfremdung: das ist die wahre und authentische Hundeseele. Genau so wahr und authentisch - und natürlich für den Zuschauer eine Quelle steter Heiterkeit oder Melancholie - gibt Jung später den Hund des 13jährigen Kolja. Auch Pereswon sehnt sich nach Vertrauen, wird aber von dem arroganten, eingebildeten Jungen permanent enttäuscht. Er leidet: wie ein Hund eben. Er möchte Treue zeigen und wird nicht dafür belohnt. Jung schnieft wie ein Hund, Jung guckt wie ein Hund - und Jungs Hund ist stets auf der Höhe des Geschehens: Er begleitet den Abend mit den passenden Blicken, Bewegungen oder Lauten, unabhängig davon, ob er gerade in der Handlung eine Rolle spielt oder ob zu erwarten ist, dass irgendjemand im Publikum gerade auf ihn achtet. Und damit stehen André Jung und seine beiden Hunde exemplarisch für das herausragende Schauspieler-Theater, das Thorsten Lensings Truppe uns bietet: Ein Theater, in dem jedes Wort und jede Geste stimmen, das trotz permanenter Verfremdungseffekte immer auch von wahren Gefühlen spricht.
Lensing hat für diese Koproduktion von sieben Theatern der Freien und der Stadttheater-Szene ein Ensemble zusammen, das keines der großen Stadt- oder Staatstheater in dieser Konzentration aufbieten kann. Und das vollkommen uneitel auftritt. Viele von ihnen gehören vermutlich zu den bestbezahlten Schauspielern des deutschsprachigen Theaters, aber alle spielen armes Theater. Soufflage? Wird im Wechsel von einem der sieben Schauspieler übernommen, der dann am Rande der Bühne vor einem großen Textbuch sitzt und mitliest. Technische Effekte? Sind selten, aber wenn erforderlich, bedient der große Ernst Stötzner mal eben die Schneemaschine. Licht? Muss ja nicht zehntelsekundengenau gedimmt oder aufgedreht werden - auch das erledigt das Ensemble ganz beiläufig selbst. Und wenn der geprügelte Hund den Aljoscha in die Hand beißt, kommt Sebastian Blomberg mit einer Flasche Theaterblut angelaufen, das sich Devid Striesow mal eben auf die hypothetische Wunde spritzt.
So spielen denn alle permanent zwischen Ernst und Ironie, zwischen Kabarett (in Einzelfällen sogar Comedy) und hoher Schauspielkunst - und irgendwie in Anführungszeichen. Diese Anführungszeichen stehen auch über der Besetzung der Rollen - meistens. Ganz ernsthaft und (wie im Roman) als ruhender Pol zwischen den vielen eher defekten Figuren spielt André Jung auch den Starez Sossima. An einem Pult vor dem Publikum trägt Jung die komplette Rede, die das Vermächtnis des sterbenden Geistlichen darstellt, vor - wie eine Predigt, klar in der Sache, aber voller Demut und Milde und ohne jeden ideologischen oder theologischen Furor. Dazu im Gegensatz wird zum Schluss die mitreißende, temperamentvolle Rede von „Aljoscha“ Devid Striesow auf Iljuschas Beerdigungsfeier stehen, die durchaus nicht ohne missionarischen Eifer ist. Striesows Aljoscha ist neben dem Starez Sossima die zweite Figur, die ohne jede Verfremdung mit großer Aufrichtigkeit gespielt wird.
Ein sogar krass gegensätzliches Paar bilden die beiden Kinder Kolja und Iljuscha. Der bald 73jährige Horst Mendroch kann bei der Verkörperung des 9jährigen Iljuscha auf seine Erfahrung aus Karin Beiers Wwedenskij-Inszenierung „Weihnachten bei Iwanows“ vor 20 Jahren am Düsseldorfer Schauspielhaus zurückgreifen. Als zweijähriges Kind blieb er wohl jedem Zuschauer, der ihn damals sah, unvergesslich. In Lensings „Karamasow“ verwandelt er sich nach der unsympathischen Auftakt-Szene erneut zu einem hilflosen, in der Sterbeszene unendlich berührenden Kleinen, der trotz der über 60jährigen Altersdifferenz zwischen Rolle und Schauspieler authentisch wirkt. Der 42jährige, groß gewachsene Sebastian Blomberg dagegen gibt den 13jährigen, an seiner Kleinwüchsigkeit leidenden Kolja als effeminiertes Muttersöhnchen mit großer Geltungssucht und Überheblichkeit sowie ansatzweise sadistischen Zügen. Seine altkluge Art wird permanent unterlaufen durch offensichtliche Minderwertigkeitskomplexe - grandios versteht Blomberg diese zerrissene Figur darzustellen.
Die Frauenfiguren sind schon in Dostojewskis Roman ein wenig unterrepräsentiert, bleiben dem Leser aber nachhaltig im Gedächtnis, weil sie sich nahezu ausnahmslos durch Hysterie und Intrigantentum auszeichnen. Von einer Sekunde zur anderen wechseln sie von großer Liebe zu großem Hass und wieder zurück. Männer, die sich von zu großer Liebe zum anderen Geschlecht heilen lassen wollen, sollten Dostojewski lesen. Bei Thorsten Lensing gibt es nur zwei Frauen, und nur auf eine trifft die o. a. Beschreibung zu. Die 14jährige Lisa ist ohne Hoffnung auf Heilung an den Rollstuhl gefesselt und in hitzigen pubertären Aufwallungen in Aljoscha verliebt. Ursina Lardi, auch schon Mitte 40, eine starke Frau mit der zarten Figur eines Kindes, verkörpert die kranke, aber ungeheuer lebenshungrige Lisa eben so, wie die erwachsenen Frauen-Figuren Dostojewskis zu sein pflegen: hysterisch, penetrant, eigensinnig und herrisch, unsicher, neugierig, zart, sprunghaft und hilfebedürftig. Ihre Mobilitätsbeschränkung kompensiert das schlanke Mädchen durch eine voluminöse und ungeheuer variable Stimme. Lisas Mutter Mme Chochlakowa, die zweite Frau, die aus Dostojewskis Roman übrig geblieben ist, wird von Ernst Stötzner in Rock und Bluse, aber ansonsten ohne Frauen-Gehabe und -Verkleidung gegeben. Er interpretiert sie nicht als die betont jugendliche, etwas durchgedrehte Witwe des Romans, sondern als etwas spitzzüngige, standesbewusste Alte, bei der sich erste Anzeichen von Altersstarrsinn abzeichnen.
Auch wenn der Abend ganz andere Schwerpunkte setzt als Dostojewskis Roman, wird richtigerweise die Autorenschaft des russischen Schriftstellers behauptet. Dialoge und Monologe sind weitgehend wörtlich dem Roman entnommen. Anstelle einer Kriminalgeschichte und eines Familienportraits entsteht ein Portrait des Aljoscha Karamasow, der sich vom demütigen, sich unterordnenden Mönch über den guten, aber manchmal ungeschickt handelnden Vermittler zu einem Ethiker und Theologen mit Führungsanspruch wandelt. Und der genau weiß: Der Name Karamasow steht bislang für das Verdorbene - und der sich dagegen zu wehren versucht. Wer sich als Zuschauer immer noch wehrt gegen Romanbearbeitungen im Theater, der schaue sich diese sensible und schauspielerisch hochkarätige Aufführung an: Besser wird Theater selten gelingen.