Aus dem Dunkel in die Katastrophe
Als die Zuschauer ins „Theater Unten“, die kleinste Spielstätte des Schauspielhauses Bochum, eingelassen werden, sitzt Peter Høeg bereits am linken Spielfeldrand an einer mechanischen Schreibmaschine. Michael Habelitz verkörpert den erwachsenen Peter, Ich-Erzähler im vermutlich in Teilen autobiographisch geprägten Roman. „Das hier ist das Laboratorium“, sagt Peter. „Man erinnert sich.“ - Als ein solches Laboratorium beschreibt Høeg auch in seinem Buch den Entstehungsprozess des Romans, als ein Laboratorium zur Aufhebung der Zeit bzw. des linearen Zeitverständnisses. Vielleicht ist das das einzige, das nicht klappt an diesem Abend auf der Bühne des Schauspielhauses.
Ansonsten haben nicht nur Regisseurin Martina van Boxen und ihr Team, sondern auch Christiane Pohle und Miriam Ehlers, deren Bearbeitung für das Theater Freiburg aus dem Jahr 2002 der Inszenierung zugrunde liegt, die verschiedenen Ebenen des Romans exzellent umgesetzt. Was fraglos eine große Herausforderung war: Denn Høegs Werk ist ein spannender Schulkrimi mit einer berührenden kleinen Liebesgeschichte; er ist eine wütende Anklage gegen das dänische Internats-Schulsystem, er ist eine genaue Beobachtung psychosozialer Störungen und der ihrer Heilung entgegenstehenden gesellschaftlichen Umstände - und er ist eine philosophische Abhandlung über die Zeit. All das bekommen die Zuschauer in Bochum zu sehen. Und das Laboratorium irgendwie auch, wenn auch etwas anders als Peter Høeg sich das gedacht hat. Michael Habelitz, unser Peter der Ältere, ist auch dafür in hohem Maße verantwortlich.
Denn er hat die Bühne entworfen. Auch die ist ein verhältnismäßig abstraktes Konstrukt, das gemeinsam mit dem Soundtrack und den Bewegungen der drei Protagonisten etwas Laborhaftes bekommt. Ein paar Holzbretter und -stangen sehen für die Bettenburgen der Internatszimmer in Rektor Biehls Privatschule; die drei Schüler Peter, Katarina und August laufen mal in stakkatoartigen choreografierten Bewegungen darum herum oder sie klettern und sitzen drauf. Zu Beginn wird die Geschichte collageartige erzählt - das macht die Angelegenheit zwar zunächst rätselhaft, aber sofort spannend. Manuel Loos gliedert die einzelnen Szenen mit seiner Musik: pochenden Geräuschen wie von einem Taktmesser oder dem Läuten einer Glocke zum Beispiel. Es steht für die Schulglocke, die wiederum die Zeit an der Lehranstalt gliedert. Die Zeitabstände, in denen sie läutet, sind höchst unregelmäßig: mal geht die Zeit schnell vorbei, mal langsam. Denn Zeit ist subjektiv: Als Katarinas erkrankte Mutter die Diagnose einer nur noch dreimonatigen Rest-Lebenserwartung erhielt, zwang sie sich, nicht mehr zu schlafen - und erlebte drei intensive, prall gefüllte Monate. Eineinhalb Jahre nach dem Tod seiner Frau brachte Katarinas Vater sich um - weil die Zeit nicht mehr verging.
Zeit ist zu knapp, Zeit fließt zu langsam - und Zeit ist der Takt, der die Menschen in ein Korsett zwingt. Der sie einengt - und insbesondere die psychisch kranken Schüler, die an Biehls Privatschule aufgenommen wurden, nicht gesunden lässt. „Arbeiten, solange noch Zeit ist“, ist der Rat der Schulpsychologin - bis zum Abgabetermin der Tests oder bis zum endgültigen Scheitern auf der Schule und im Leben. August bekommt für seine Zeichnung eine schlechte Note - und kurz später für die gleiche Zeichnung eine gute: weil er beim zweiten Versuch mehr Zeit verwandt hat, glauben die Kinder. Schule funktioniert nur über die Zeit: Stundenpläne, fest definierte Pausen gliedern das Leben im Internat und haben disziplinierende Funktion. Intelligenztests basieren auf Zeitmessungen: „Markiere alle d und q, die du in einer vorgegebenen Zeit findest“ etc.. - Die Schule ist für die Kinder ein repressives System, und das Mittel zur Repression ist das System der Zeit. So glauben die Kinder. Und es ergeben sich Fragen:
„August ist das Chaos, sie (die Lehrer) sind die Ordnung. Warum haben sie ihn aufgenommen?“, fragt Katarina. Jessica Maria Garbe gibt die Älteste der drei Schüler als die Überlegteste, Abgeklärteste: Sie stellt Fragen, findet Antworten und stellt strategisches Vorgehen vor übereilte Aktionen. Jeder der drei Schüler hat eine tragische Geschichte. Katarina ist Waise, musste den Selbstmord ihres Vaters erleben. Peter (Damir Avdic) hat auf seinem Weg in Biehls Privatschule bereits sieben Waisenhäuser und Erziehungseinrichtungen kennengelernt. Er gilt als psychisch gestört. Der erheblich jüngere August ist ein Autist mit einer dissoziativen Identitätsstörung und extrem einzelgängerischem Verhalten. Peter und Katarina werden bald herausfinden, dass August seine Eltern getötet hat. Matthias Eberle ragt schauspielerisch aus dem restlichen Ensemble heraus: Wie er den stotternden, traumatisierten, an Krämpfen und Schlafstörungen leidenden Jungen spielt, ist nicht nur beeindruckend, sondern auch berührend.
Aber warum ist August an dieser hehren Erziehungsidealen verpflichteten, vorwiegend „normale“ Schüler beherbergenden Schule aufgenommen worden? Warum haben viele Eltern ihre Kinder von der Schule genommen? Was Høeg beschreibt, ist ein beeindruckendes Plädoyer gegen jedweden totalitären Druck - und eben der wird an der Schule ausgeübt, die für den Autor stellvertretend für das dänische Internatsschulsystem steht. Dort herrschen alptraumartige Verhältnisse in einem System aus Strafe und Unterdrückung, das Normabweichungen gnadenlos auszumerzen versucht. Mit einem willkürlichen (zeitbasierten?) Notensystem, einer Überwachung mit Hilfe von Lautsprechern und Abhöranlagen, mit körperlicher Züchtigung und Isolationshaft, einem „Inspektor“, der einem bei der Kontrolle buchstäblich distanzlos auf den Füßen steht und einer Schulpsychologin, die den Kindern Angst einjagt. Doch die Bildungspolitiker und die Lehrer sind keine herzlosen Sadisten: Sie führen dieses System ein, um die Kinder „zum Licht“ zu führen. Sie erklären sich bereit, die sozial Benachteiligten, die geistig Behinderten oder Minderbemittelten, die psychisch Gestörten an ihren renommierten Anstalten einzugliedern und in die Gesellschaft zu integrieren. Um auch sie aus dem Dunkel ins Licht zu führen. Um sie an unsere Regeln zu gewöhnen, unser Wertesystem, unseren unerbittlichen Zeittakt. An den Takt einer Gesellschaft, in der Perfektion und Leistung oberstes Gebot sind. Und dazu muss alles Andersartige ausgelöscht werden.
Somit kann der Plan zur Abschaffung des Dunkels nicht aufgehen. Sicher nicht in einem derart repressiven System. Und in einer integrativer angelegten, rücksichtsvolleren Welt? Die Uhr der Augusts, Peters und Katarinas geht anders. Dem Druck, den Schule und Gesellschaft ausüben, können sie nicht standhalten, ohne noch mehr Schaden zu nehmen an ihrer Seele. Insofern ist die hochspannende Aufführung am Schauspielhaus Bochum auch ein brisanter Beitrag zum Thema Inklusion. Den Idealisten, die sich vermeintlich politisch korrekt für bedingungslose Inklusion aussprechen, sei der Besuch der intelligenten, sehr genauen Inszenierung nachdrücklich empfohlen. Allen anderen aber auch!