Zerbombte Seelen
Sarah Kane stand kurz vor der Vollendung ihres 24. Lebensjahrs, als ihr Debüt-Stück im Januar 1995 am Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt wurde: Zerbombt. In der Tat - wie eine Bombe schlugen Stück und Autorin ein: In jener Zeit, als britische Dramatiker wie Mark Ravenhill oder Anthony Neilson mit schonungslosen Sex- und Gewalt-Szenen das Publikum schockierten und gegen die Restauration und die sozialpolitischen Missstände der Thatcher-Ära rebellierten, war Kane wohl die radikalste Vertreterin des “In-Yer-Face“-Theaters. Sie schrieb fünf kurze Stücke. Dann, am 20.Februar 1999, hängte sie sich auf. Auf erschütternde Weise dokumentieren ihre Texte - vor allem ihr Debüt sowie ihr letztes Stück 4.48 Psychose, mit dem sie die Beschreibung ihres Selbstmords vorwegnahm, ihren seelischen Zustand. Auch Sarah Kane war, als sie mit 28 Jahren starb, im metaphorischen Sinne „zerbombt“.
Maja Beckmann, die sich in zwölf erfolgreichen Jahren am Bochumer Schauspielhaus zum Publikumsliebling entwickelt hatte und im Sommer 2013 nach Stuttgart wechselte, spielt die Cate in David Böschs auf allzu drastische Bilder verzichtender, dennoch zutiefst verstörender Inszenierung. Sie spielt zunächst, was sie in Bochum immer spielte: ein nettes, einfaches Mädchen von nebenan. Es war diese Rollenzuschreibung, der Beckmann mit ihrem Wechsel nach Stuttgart entkommen wollte: In den nächsten 75 Minuten wird ihr dies eindrucksvoll gelingen; mit minimalen Gesten wird sie Lust und Ekel, Verunsicherung und Entschlossenheit, Fürsorge und Abneigung andeuten und dem Bochumer Publikum wieder einmal klarmachen, was es mit ihr verloren hat.
Auch das Stück beginnt wie ein typisches englisches well-made play: Cate trifft in einem Hotelzimmer auf Ian, mit dem sie mal was hatte und der erneut mit ihr anbändeln will. Zumindest will er sie mal wieder vögeln. Ian ist todkrank; Cate will dennoch nichts mehr von ihm wissen und lässt ihn abblitzen. So weit, so Boulevard. - Doch schon die minimalistische Sprache taugt nicht auf den Boulevard. Auch macht Ian nicht auf die Mitleids-Tour. Stattdessen lässt Robert Kuchenbuch ein paar rassistische Sprüche los, von „Werten …, (die) man schützen (muss) vor diesem Dreck“ ist bald die Rede: Lutz Bachmanns Pegida ist nicht weit, Paris im Januar 2015 auch nicht. Ab und zu klopft es an der Tür: überlaut, unrealistisch elektronisch verstärkt. Kälte herrscht, Angst und Verunsicherung auch, und was von draußen hereinkommt, kann es nur noch schlimmer machen. Sowohl Cate als auch Ian scheinen Sehnsucht nach körperlicher Nähe zu haben, aber Liebe - und sei sie auch nur eine im Sex liegende Tröstung - ist dennoch weit weg in diesem Hotelzimmer. Cate zieht schließlich die Matratze aus dem Doppelbett und zerschießt den weißen Tulpenstrauß, den Ian ihr - kühl, automatisiert - überreichen will. Die Zweifel am Ex sind fundamental: „Du kannst doch niemanden töten … Hast du schon mal jemanden erschossen?“. Ian vergewaltigt Cate, womit die erste Eskalationsstufe erreicht wäre. Ohrenbetäubender Lärm. Autos sind es, die vorbeifahren, keine Bomben, die explodieren. Noch nicht.
Denn kaum ist Cate geflohen, lässt Sound-Designer Philip Roscher endgültig all seine Pferdchen vom Zaum. Markerschütterndes Dröhnen: Schutt stürzt vom Schnürboden herab und bedeckt die ganze Bühne. Ins Luxushotel bricht auf surreale Weise ein veritabler Krieg ein - nun schreiben wir eher Dresden 1945 als Dresden 2015. Ein Anschlag? Ein Soldat tritt auf: „Das ist jetzt unsere Stadt. Willst du für uns kämpfen?“ Gefühllos, rotzig und brutal, zugleich angsterfüllt und auf eine dumpfe Weise resignativ hatte Robert Kuchenbuch den Ian gegeben - der Brutalere und Zynischere, aber auch der Zärtlichere und stärker Traumatisierte der beiden ist jedoch nun Manolo Bertlings Soldat. Grauenerregende Geschichten vom Krieg erzählt er - und dann, im Feuerschein, im Gegenlicht eines gleißenden Bochumer Scheinwerfers vergewaltigt er Ian, reißt ihm die Augen heraus und isst sie auf. Und da Bösch uns Radikales ersparen will, sehen wir den anschließenden Selbstmord des Soldaten nicht: Bertling schreibt in großen Buchstaben an die Wand: „ER ERSCHIESS† sich.“
„Sie haben gewonnen.“ Cate kommt zurück mit einem Baby im Arm, das ihr eine fremde Frau übergeben hat. „Gott wird uns helfen“, sagt sie, und im Parkett stößt uns diese Illusion bitter auf. Mehr Nihilismus als in diesem Stück steckt ist kaum vorstellbar. Auch das Baby wird nicht überleben. „Glück gehabt“, sagt der blinde Ian, und Cate lacht hysterisch. Erneut zeigt Bösch nicht, sondern erzählt nur, dass Ian den Säugling verzehrt. Cate wird dem hilflosen Ian zu essen holen. Die Verzweiflung ist grenzenlos.
Auch wenn Bösch uns die Visualisierung des Grauens erspart, regt er mit Hilfe von Soundtrack und Lichttechnik unsere Vorstellungskraft auf das Lebhafteste an. Doch er klagt - im Einklang mit Sarah Kane, die sich selbst als „hoffnungslose Romantikerin“ bezeichnete - keine der Figuren an. Böschs Inszenierung dröhnt - manchmal akustisch, manchmal optisch. Doch meist ist sie voll leiser Trauer. Die Autorin und der Regisseur schildern eher Hoffnungslosigkeit als Romantik: Die wenigen zwischenmenschlichen Lichtblicke (wenn Cate den blinden Ian füttert oder der Soldat mit ein paar zärtlichen Gesten die Vergewaltigung vorbereitet) haben den Geschmack von bitteren Mandeln - Zyankali. Welcher Krieg draußen stattfindet, ist gleichgültig. Ob es überhaupt ein realer Krieg ist (Kane schrieb den zweiten Teil des Stückes unter dem Einfluss des jugoslawischen Bürgerkriegs), sei dahingestellt. Kanes Stück beginnt im Individuellen und kehrt nach einem Umweg in eine sehr abstrakt wirkende Kriegs-Realität wieder dorthin zurück. In der Welt und in den Seelen der Menschen herrschen Trostlosigkeit, soziale Kälte und Anarchie - und es ist so schwarz, wie wir es selten im Theater erlebt haben. Der Mensch ist des Menschen Wolf - doch er hat keine Wahl: Nichts anderes als eine Bestie kann er sein, weil auch die Welt bestialisch ist. Und so hat weder der Mensch noch die Welt eine Zukunft. „Wer will schon Kinder. Du bringst sie zur Welt, sie werden erwachsen, sie hassen dich, und du stirbst“, sagt Ian.