Ein Sujet, das ans Herz greift
Vor allem die finalen Szenen trafen auf ein atemlos lauschendes Publikum. Bei der Premiere herrschte absolute Stille im Auditorium. Der Beifall danach war extrem.
Joseph Roth, den man wohl vor allem als Autor des Romans Radetzkymarsch kennt, führte ein verqueres Dasein. Geboren wurde er in einer Kleinstadt der heutigen Ukraine und starb mit nur 44 Jahren in einem Pariser Armenspital. Kurz zuvor verfasste er noch die Erzählung Legende vom Heiligen Trinker. Sein eigenes Leben war weder heilig noch eine Legende; ein Trinker war er allerdings. Nur unter dem Einfluss von Alkohol vermochte er zu schreiben. Mit Hiob (1930) wandte er sich von seinem bisherigen nüchternen Journalistenstil ab und beschrieb die bewegende Lebensgeschichte eines Menschen, der in seinem festen Gottesglauben zutiefst erschüttert wird.
Als orthodoxer Jude lehrt Mendel Singer, welcher dem alttestamentarischen Hiob nachempfunden ist, die Tora und reagiert auf Fragen und Probleme des Lebens stets mit dem Hinweis auf „Höheres“. Der Empfehlung, seinen jüngsten Sohn Menuchim, welcher an Epilepsie leidet und sich sprachlich nicht artikulieren kann, in die Obhut von Ärzten zu übergeben, verweigert er sich. Damit würde er, so seine Meinung, in Gottes Räderwerk eingreifen. Die Familie ist jedoch anderer Meinung. Auch lässt sie sich von dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, den USA, faszinieren. Die Kinder Mirjam, Jonas und Schemarjah wandern aus, holen später die Eltern nach. Mutter Deborah, lebenszugewandter als ihr Gatte, blüht in der neuen Umgebung auf. Doch sie alle sterben Mendel hinweg. Diesen Schicksalsschlag vermag er nicht mehr als Prüfung Gottes zu akzeptieren. Er sagt sich von seinem himmlischen Übervater los und ist sogar willens, die Insignien seines Glaubens dem Feuer zu übergeben.
Doch dann geschieht so etwas wie ein Wunder. Ein junger Mann, von Beruf Dirigent, tritt in den Kreis von Mendels jüdischen Freunden. Er berichtet von einer eigentümlichen Karriere, wobei sich nach und nach erweist, dass es sich bei ihm um den geheilten Menuchim handelt. Beim Wiederfinden von Vater und Sohn scheint in der großen Halle von Depot 1 die Zeit stehen zu bleiben. Bruno Cathomas erzeugt mit der Erschütterung Mendels ein Gefühl wie jenseits von Raum und Zeit. Doch wirklich ein Wunder? Regisseur Rafael Sanchez deutet die Vorgänge keineswegs nüchterner, aber doch abwägender. Mendel findet bei ihm zu Gott zurück, doch religiöser Fundamentalismus weicht nunmehr einem Toleranzdenken. Mendels letzter Satz lautet „Ich begrüße die Welt“.
Rafael Sanchez inszeniert diesen Moment fast oratorisch, gibt damit Wort und Nachdenken weiten Raum. Die Bühnenadaption von Roths Roman durch Koen Tachelet nimmt immer wieder reflektierende Passagen des Originals auf, verweigert sich somit einer plakativen Nacherzählung. Dieses Prinzip setzt sich in der Inszenierung von Sanchez fort. Auf einem von Holzpfeilern gestützten Hochparterre (Simeon Meier), dem man zunächst nicht sonderlich viel abzugewinnen vermag, sitzen die Darsteller auf parallel angeordneten Stühlen, als stünde ein Lehrstück von Brecht zur Aufführung an. Doch der Mix aus Doku und Theaterspiel überzeugt mehr und mehr. Später beginnt sich das Podium zu drehen, seine Stützpfeiler fallen ab, es wird zum Schiff auf der Überfahrt nach Amerika und dieses Land schließlich selbst.
Die überragende Darstellung von Bruno Cathomas, welche Mendels verengte Gläubigkeit beklemmend zur Wirkung bringt, wirft zwangsläufig einen Qualitätsgraben zu den Leistungen der anderen Akteure auf. Gleichwohl bilden sie ein starkes Ensemble: Sabine Orléans (Deborah), Julia Riedler (Mirjam, die zuletzt dem Wahn anheim fällt), Jakob Leo Stark (Jonas), Thomas Müller (Schemarjah), Niklas Kohrt (Menuchim) und Axel Pape. Der Abend beschäftigt noch lange nach seinem Ende.