Tragödie der Grubenratten
Als „Grubenratte“ beschimpft Hester ihren Mann Bram Pilcher. „Das Bergwerk hat dich gefesselt an Händen und Füßen. Du bist von der Gesellschaft abhängig“. Aber außer dem Kohlebergwerk in den Red Hills von Alabama gibt es tatsächlich kaum eine Arbeitsmöglichkeit in dem 1.500 Seelen Dorf. Die Frauen und Mütter lehnen sich dennoch gegen die Ausbeutung auf. Zu viele Männer und Söhne verlieren ihre Gesundheit oder gar das Leben unter Tage. Zwei Söhne der Pilchers werden Opfer der Schicht im Schacht. Tochter Star rennt mit 16 Jahren von zu Hause weg, verkauft sich und muss hilflos mit ansehen, wie die große Liebe ihres jungen Lebens, der idealistische Gewerkschaftsverfechter Birmingham Red, von einem Schlägertrupp brutal ermordet wird. Hester stirbt erschöpft. Bram wird hinfällig und blind (im realen wie übertragenen Sinn). Schwiegertochter Fern verliert das Geld, das sie für den Collegebesuch von Sohn Luke mühselig zusammengespart hatte...
Deprimierende Schicksale sind das vor dem Hintergrund der großen amerikanischen Depression der 1930er Jahre - Kerzen unter der Sonne (Candles in the Sun, so der englische Titel): winzige, flackernde Leuchten im blendenden Schein der Welt. Keine antiquiert „historischen“ Schicksale, sondern Menschen in Überlebens-Not von damals wie heute.
Alle Qualitäten des passionierten Südstaatlers Thomas Lanier „Tennessee“ Williams zeigen sich bereits in diesem seinem ersten abendfüllenden Drama, das 1937 von einer semiprofessionellen Truppe in St. Louis uraufgeführt wurde, aber über seinen folgenden Meisterwerken wie Die Glasmenagerie, Endstation Sehnsucht oder Die Katze auf dem heißen Blechdach in Vergessenheit geriet. 2008 erlebte Candles in the Sun seine gefeierte Wiederentdeckung in einer ersten wirklich professionellen Inszenierung in Chicago. 2010 sendete der WDR die deutsche Fassung von Wolfgang und Renate Wiens als Hörspiel. Münsters Schauspielchef Frank Behnke inszenierte sie nun erstmals auf einem europäischen Theater.
David Hohmanns Bühnendesign bleibt dicht am deutschen Titel Licht unter Tage: ein beleuchtetes, milchverglastes Quadrat bildet die Spielfläche, um die sich eine vierteilige Zuschauertribüne zieht. Der schwarze Hügel in der Mitte der Plattform - Grabhügel für die Leiche von Joel - wird von Bergmännern emsig über das ganze Areal verteilt, bis der Raum stockfinster ist. Eine Leuchtreklame gibt Nachricht von Ort und Zeit jeder Szene. Diese nüchterne Technik unterstreicht Aktualität und Realität derartiger Szenarien. Der Ausruf der streikenden Bergarbeiter („Neger und Ausländer raus!“) dürfte allerdings aus aktuellem Anlass eingefügt worden sein.
Das Ensemble beeindruckt mit unpathetischer Darstellung. Regine Andratschke (Hester) wächst geradezu über sich hinaus. Mark Oliver Bögel (Bram Pilcher) mutiert anrührend vom Macho zum starrköpfig hinfälligen Greis. Daniel Rothaug und Maximilian Scheidt liefern frische Porträts von Sohn und Enkel. Florian Steffens gibt den zwingend glaubwürdigen Birmingham Red. Fulminant markiert Claudia Hübschmann Arroganz und Verunsicherung der Grubenbesitzer-Gattin. Carola von Seckendorff hält als verwitwete Schwiegertochter Fern bewundernswert die Balance zwischen Leid und hartnäckigem Überlebenswillen. Maike Jüttendonk zelebriert ihre Rolle als Star geradezu. In dieser jungen Frau - wie auch in Hester und Fern - sind Williams' Laura, Blanche oder Margaret schon deutlich erkennbar, aber Williams' sensible Personenzeichnung ist auch in den übrigen Charakteren zu ahnen. Nur hat dieser Erstling eine viel zu umfangreiche Besetzung, als dass das Einzelschicksal wie in filmischer Großaufnahme detailreich porträtiert werden könnte.
Münsters Schauspiel wird auch mit dieser dritten Williams-Wiederentdeckung immer mutiger, kreativer und erfolgreicher. Das Premierenpublikum spendete allen Mitwirkenden minutenlangen Applaus.