Wenn der Fisch vom Himmel fällt
Siebenschläfer, sieben Zwerge, sieben Weltwunder. Glorreiche Sieben, sieben Geißlein, sieben Samurai. Über sieben Brücken sollst du gehen, möglichst mit Siebenmeilenstiefeln, denn dann kannst du am siebten Tage ruhen wie der liebe Gott nach Erschaffung der Welt. Es waltet offenbar eine besondere Vorsehung im Fall dieser Zahl. Aber wie tragisch, wenn alle Kinder im Alter von sieben Jahren ihre Väter verlieren: Gabriel York verließ im Jahre 2018 seinen siebenjährigen Sohn Andrew. Seit sieben Jahren hat er nicht mehr mit seinem Stiefvater Joe gesprochen. Gabriel Laws Vater Henry hat seine Familie verlassen, als Gabriel sieben Jahre alt war. Sieben Postkarten hat er noch an seinen Sohn geschrieben, die die Mutter jedoch vor ihm versteckte. Bei Gabrielle York (Gabriel Yorks Mutter) war es die Mutter, die sich ertränkte, als Gabrielle sieben war. Ihr Bruder Glen verschwand im Alter von sieben; seine Überreste wurden später am Strand aufgefunden. Ihr Vater brachte sich später um, was, wenn nicht alles täuscht, ausnahmsweise nur sehr indirekt mit einer Sieben zusammenhängt. Glorreich scheint die Zahl in Andrew Bovells Stück nicht zu sein.
Verwirrend kommt Ihnen das alles vor? Rätselhaft? Das ist noch gar nichts! Gleich zu Beginn, wir schreiben das Jahr 2039, fällt in Alice Springs ein Fisch vom Himmel. Plumpst Gabriel York direkt vor die Füße, mitten in der Wüste, im Zentrum Australiens. Nass wird er sein, denn es regnet seit Jahren. Ganze Kontinente stehen unter Wasser; in Bangla Desh, in Europa und in Nordamerika herrscht Sintflut. Auf der Bühne des Rheinischen Landestheaters in Neuss auch. Der Fisch fällt vom Himmel, es regnet, und immer essen alle Fischsuppe. Der australische Drehbuchautor Bovell gibt sich stark von der Mythologie der australischen Ureinwohner und deren Schöpfungsmythos beeinflusst. Könnte sein, dass der vom Himmel fallende Fisch - der jedenfalls nichts mit der christlichen Metaphorik zu tun hat - ein Barramundi ist. Der ist ein äußerst beliebter Speisefisch in Australien, und in der Mythologie der Aborigines wird er mit Reproduktion, Reinkarnation und Transformation verbunden. Reproduktion und Reinkarnation - im übertragenen Sinne - gibt es reichlich in diesem Stück, das zwischen den Orts- und Zeitebenen hin und herspringt und mal in London, mal in Australien, mal in den 60ern, mal in den 80ern, mal 2013 und am Anfang und am Ende im Jahre 2039 spielt. An jedem Ort, zu jeder Zeit gibt es Fischsuppe, immer wieder fallen die gleichen Sätze, und wenn die Kinder sieben sind, ereignet sich eine größere Familienkatastrophe. Neben den Aborigines habe ihn speziell zu diesem Stück ein Goya-Gemälde inspiriert, sagt Bovell: „Saturn frisst seine Kinder“. Das Verschwinden der Väter frisst sie alle auf, diese Kinder mehrerer Generationen aus zwei Familien. Die Laws aus England und die Yorks aus Australien wissen nichts voneinander, aber sie verbindet eine verdammt düstere Geschichte. Und sie ersticken an ihren dunklen Familiengeheimnissen, die sie vor der nächsten Generation zu verbergen suchen.
Den Teufel werden wir tun, Ihnen diese rätselhafte Geschichte nunmehr aufzudröseln. Stück und Inszenierung sind darauf angelegt, die detektivischen Fähigkeiten des Zuschauers anzuregen. Und das macht Freude, den meisten jedenfalls. Aber es erfordert auch högschde Konzentration, zumal zwei Personen (Gabrielle York von Down Under und Elisabeth Law aus U.K.) doppelt besetzt sind (als „die Ältere“ und „die Jüngere“), in verschiedenen Zeitebenen agieren, aber manchmal dennoch gleichzeitig als Ältere und Jüngere auf der Bühne auftauchen. Vielleicht wäre dem RLT anzuraten, neben der Bühne mit der Einblendung einer Orts- und Zeitangabe eine Orientierungshilfe anzubieten - aber das widerspräche dem alten Aborigine-Glauben, der keine lineare Zeitentwicklung kennt und Gegenwart und Vergangenheit als einen einzigen Schöpfungsakt ansieht.
So sei es denn gut wie es ist - es gehe bloß keiner in der Pause nach Hause, denn unmittelbar danach lösen sich alle Rätsel auf. Statt Honig im Kopf herrscht beim Zuschauer plötzlich hellsichtige Klarheit - und im Theater eine ungeheuer dichte, intensive Atmosphäre. Die Unterhaltungen sind immer noch voller Nichtgesagtem, doch endlich brechen die Gespräche nicht mehr ab, sobald eine der Figuren ans Eingemachte geht. Wir erfahren von Unfällen und Sterbehilfe, von Pädophilie und Verletzungen, von Liebe, vor der man flüchten muss und von Liebe, die man ein Leben lang verschließt. Erst in der Schluss-Szene, wieder bei Gabriel York im Jahre 2039, kommt die Erlösung. Vater und Sohn sprechen miteinander, reden über die Vergangenheit. Und der große Regen, der nahezu während der gesamten Aufführung auf die Bühne niedergegangen war, kommt zum Stillstand.
Regisseur Michael Lippold und seine Ausstatterin Iris Kraft haben sich für zeitlose Kostüme entschieden; allenfalls an kaum wahrnehmbaren Applikationen lässt sich erkennen, in welcher Zeit wir uns gerade befinden. Der weitaus größte Teil des Stückes spielt in einem kleinen, auf der Bühne des Landestheaters aufgebockten Quader hinter Fenstern; die Schauspieler sind mit Mikroports ausgestattet und angehalten, eine ganz natürliche Sprache zu sprechen. Auch der während der 80 Jahre währenden Handlung unveränderte Einheitsraum erleichtert die Orientierung des Zuschauers nicht gerade, zwingt aber die Figuren eng zusammen, die einander bzw. der Erinnerung an die Vergangenheit eigentlich aus dem Weg gehen wollen. Wenn es einzelnen Charakteren einmal gelingt, aus ihrem engen Korsett auszubrechen, wird außerhalb des Einheitsraums auf der „freien“ Bühne gespielt. Dort erleben wir zum Beispiel die junge Liebe von Gabriel Law und Gabrielle York - überzeugend setzen Georg Strohbach und Shari Asha Crosson als junges Paar einen Kontrapunkt zu der verkrampften engen Welt ihrer Familien. Im Container überzeugt vor allem Hergard Engert als verkapselte und versteinerte Elisabeth Law, die den Mann, den sie liebt, verstoßen muss, um den Sohn, den sie nie haben wollte, zu schützen. Johann Schiefer gibt diesen ihren Mann als merkwürdig teigigen Nobody. Wüssten wir um ihn, würden wir ihn ablehnen, aber da wir erst durch Andrew Bovell und Johann Schiefer von ihm erfahren, empfinden wir Mitleid auch mit ihm, der eines Abends in der Dämmerung den Ayers Rock erklimmt, um nie zurückzukehren. Jahrzehnte später fällt dort ein Fisch vom Himmel…