Geschichtsstunde mit Liedern und Klamotten
Spontaneität steht auch für Flexibilität. Und so ist es durchaus als Beleg für die Leistungsfähigkeit eines Theaters zu werten, wenn sich während des Probenprozesses die Richtung eines Projektes komplett ändern kann. Im vorliegenden Fall wurde aus einer „Endzeit-Revue“ eine „Deutschland-Revue“. Natürlich mag dann der vorher gewählte Titel nicht mehr wirklich passen. Aber wen stört das eigentlich?
Und so ziehen in drei Stunden 100 Jahre deutsche Geschichte in Auszügen und Kopplungen am Zuschauer vorbei. Aus Dokumenten von so relevanten wie ambivalenten Zeitzeugen wie Hanna Arendt, Ulrike Meinhof und Angela Merkel, Günter Wallraff und Axel Springer hat Patrick Wengenroth einen Text collagiert, immer wieder unterbrochen und ausgeführt durch von Johannes Mittl vom Klavier aus grandios gesteuerte und von den Schauspielern gekonnt solistisch vorgetragene Lieder von Mike Krüger bis André Heller, von Bettina Wegner bis Anna Depenbusch.
Auftreten ein Clown, ein Polizist, ein Dirndl, ein Braunhemd, ein wilhelminischer Soldat ohne Beinkleid. Deutschland? Natürlich gibt es Glanzlichter. Wenn Andrej Kaminski die Texte aus Wallraffs Unter uns fast schockierend schlicht serviert und nebenbei lecker riechende Suppe kocht. Wenn Glenn Goltz schön wurschtig Gedichte von Ahnfried Astel und Heinz Schenk (!) exekutiert. Oder wenn Ursula Grossenbacher mit fast pathetischer Gelassenheit Udo Jürgens‘ Ist das Nichts? zum einsamen Höhepunkt macht. Dennoch reißt der Abend nicht mit, macht ratlos, ist es vielleicht – das Ende deutet darauf hin – selber ein wenig. Es findet einfach zu wenig statt, zu wenig Interaktion, zu wenig Körper, zu wenige Kraftentladungen.
Die Bühne besteht aus übereinander getürmten Holzpodesten. Davor ein Kleiderhaufen. Wir denken an Auschwitz. Eine elegante Frau, die so ausgezeichnete wie stets dezente Lydia Stürmli, kommt zu Beginn ‚privat‘ auf die Bühne und schließt diese Sollbruchstelle mit diskreter Ironie. Sie artikuliert Zweifel, bevor es beginnt. Und diese Zweifel dominieren den Abend, der nur langsam Tempo aufnimmt, immer wieder droht, in seine Einzelteile zu zerfallen, sich schließlich findet in einer Art graugeränderten, nur durch wehmütigen Spott aufgehellten Melancholie. Wirkliche Konturen gewinnt nur die Nachkriegszeit, mit Kaminskis Wallraff, mit Grossenbacher als aus kleinsten Bewegungen zusammengesetzte, fast sogartige Hanna Arendt. Die letzten 25 Jahre finden, abgesehen von einer sehr halbgaren, fiktiven Konfrontation Meinhof-Merkel, eigentlich gar nicht statt. Und mit den Weltkriegen müht sich Samuel Braun, der sich durch poetisch verschlungene, irgendwie garstige Textbrocken von Ödön von Horvath zu wühlen hat und auf hohem Niveau daran scheitert. Es fehlt, abgesehen von der angesprochenen Ratlosigkeit, schlicht an Haltung, an Furor, auch an Empathie. Obwohl Bonn wirklich tolle Schauspieler hat, bleibt Deutschland weit weg an diesem Abend.