Übrigens …

Kreise / Visionen im Schauspielhaus Düsseldorf

Mammon, Glaube, Herr und Knecht

Der einundfünfzigjährige französische Regisseur und Dramatiker Joël Pommerat ist in Deutschland noch ein großer Unbekannter. In Frankreich gilt er längst als einer der wichtigsten zeitgenössischen Dramatiker. Sein Stück Kreise / Visionen entwickelte er vor fünf Jahren als Artist in Residence an Peter Brooks legendärem Théâtre des Bouffes du Nord. Es erzählt acht kleine Geschichten aus der Zeit zwischen dem 14. und dem 21. Jahrhundert, und es erzählt sie nicht linear, sondern in Vor- und Rückblenden sowie ineinander verschachtelt. Das macht die Rezeption des Stückes nicht einfach, aber wenn es gut inszeniert wird, hält das Verfahren die Konzentration des Zuschauers hoch. Bei Hans-Ulrich Beckers Deutschsprachiger Erstaufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus gelingt dies nahezu durchgängig.

Dankenswerterweise blendet die Technik stets tages- (und vor allem jahres-)genaue Daten ein, um dem Zuschauer die Orientierung zu erleichtern. Alle Geschichten ereignen sich in historischen Krisenzeiten – weniger dankenswerterweise allerdings nicht nur in Zeiten globaler Krisen, sondern auch in Jahren, deren krisenhafte Momente nur dem Kenner der französischen Geschichte geläufig sind. So muss denn eine deutsche Aufführung damit zurechtkommen, dass die wenigsten Zuschauer über den Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England im 14. Jahrhundert und den Frieden von Brétigny im Jahre 1360 Bescheid wissen oder das Jahr 2002 ganz selbstverständlich den politischen Eruptionen rund um die Stichwahl zwischen Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen im Kampf um das Amt des französischen Staatspräsidenten zuordnen. Der deutsche Zuschauer wird sich also vor allem auf zwei große Themenkreise des Stückes konzentrieren: den Aspekt des Glaubens und der Ratio sowie die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht im Laufe der Jahrhunderte. Mancher Autor der zu Beginn des 20. Jahrhunderts anbrechenden Moderne habe, so schreibt Markus Krajewski in einem im Düsseldorfer Programmheft abgedruckten Aufsatz, offenbar vor der drängenden Frage gestanden, „ob die Subalternen nun tatsächlich dem Menschen oder doch eher dem Vieh zuzuordnen seien.“

Mit zwei solchen Szenen des Umbruchs im Verhältnis von Herren und Dienern beginnt die Düsseldorfer Aufführung. Was passiert, wenn im Herbst des Jahres 1914 ein formvollendet auftretender Aristokrat seinem noch viel formvollendeter auftretenden Diener seine schwule Liebe antragen möchte? (Das großartige Spiel von Reinhart Firchow und Jakob Schneider schafft sofort Spannung und Atmosphäre im Publikum, aber wie die kleine Geschichte sich weiterentwickelt, erfahren wir erst nach einem Umweg über mehrere Jahrhunderte und Sie erst beim Besuch der Vorstellung.) - Wie definiert im Winter 1901 die aufgeklärte Herrin das Verhältnis zu ihrer neu eintretenden Diener-Schar? Ganz geschäftsmäßig: „Sie bieten uns Ihre Erfahrung und Ihre Kompetenz, wir bieten Ihnen ein angemessenes Gehalt, freie Kost und eine Wohnung.“ - „Das ist die Basis unseres Verhältnisses. Der Rest ist Dichtung.“ Jeglichen Sozialklimbim lehnt die Aristokratin ab. Elegant und souverän gibt Katrin Hauptmann ihre Figur - und technokratisch, kalt und emotionslos gegenüber ihren Untergebenen. Fassade bewahren, ist das Motto - selbst bei existenziellen Katastrophen. Erst hinter verschlossenen Türen vermag die Herrschaft des Jahres 1901 ihrer Verzweiflung über den Tod des eigenen Kindes Raum zu geben. - Als revolutionär empfindet sie die ihren Bediensteten eingeräumte Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Leben, aber die sind aufgrund ihrer sozialen Stellung ebenso wie aufgrund mangelnder Übung und Erfahrung nicht in der Lage, diese Möglichkeit zu nutzen.

 „Heute muss keiner mehr getragen werden“, meint Katrin Hauptmann. Sie entledigt sich so jeder sozialen Verantwortung im Hinblick auf das Schicksal ihrer Untergebenen und trifft genau den Ton, den mancher Matador des Turbokapitalismus im 21. Jahrhundert anschlägt. Mehrfach skizziert Pommerat Situationen, in denen man denkt, das Verhältnis zwischen Herr und Knecht habe sich im Laufe der Jahrhunderte kaum verändert. Doch zum Teil zeigen gerade die in unserem Jahrhundert spielenden Szenen eine Umkehr dieses Verhältnisses. Gerade noch hatte Unternehmer Jansen wie ein Seminarleiter in jahrhundertealtem Rollenmuster ein paar Arbeitslosen in einem zynischen Spiel realistische Bewerbungstipps mit auf den Weg gegeben, tritt er als Bittsteller bei einer Gruppe von Obdachlosen auf: Sein Sohn benötigt dringend eine Organspende. Doch die Obdachlosen erkennen schnell die Situation und versuchen ihn gnadenlos zu erpressen. Mammon spielt im 21. Jahrhundert die große Rolle. War noch im 19. und 20. Jahrhundert die Vermögensverteilung scheinbar unabänderlich eine Frage von Status und Stammbaum, so ist der Sieg des Herrn über den Knecht heute nicht mehr selbstverständlich. Zumal wenn moralische Grenzen ausgetestet werden. Da kann eben der mit Cash wedelnde Wirtschaftsboss vom Obdachlosen ausgepokert werden und das Mitglied der Drückerkolonne für den Verkauf der Universalbibel sich vergeblich die Zähne ausbeißen.

Die Bibel verweist auf den zweiten Gedankenstrang des Stücks: den Glauben. Und wenn es schon nicht immer die Themenkreise Hierarchie und Glaube sind, die sich in Pommerats Stück auffällig miteinander verzahnen, so sind es doch die Kreise Geld und Glaube. Das beginnt mit den Seelenschmerzen eines Ritters im 14. Jahrhundert, der an der Unmoral seiner Zeit verzweifelt: Ganz heutig sitzt da ein sexy Girl auf dem Schoß des Bischofs, und Jakob Schneider als frommer Ritter klagt: „Heute verehren die Menschen Luxus und Geld.“ Und es endet im Aberglauben: einer großartigen Macbeth-Geschichte aus dem Jahre 2005, in der die Hexen zu obdachlosen Frauen im Parkhaus geworden sind und der Beischlaf mit ihnen den Vorstandsvorsitz im Unternehmen bringt.

Hin und her wogen diese acht Geschichten, und erst nach und nach vermag der Zuschauer Bezüge zwischen ihnen herzustellen. In Hans-Ulrich Beckers Inszenierung verbindet Andreas Grothgar als Conférencier die Geschichten auf einer Art Meta-Ebene: „Alles spielt sich hier ab“, sagt er, „unser ganzes Leben.“ Und blickt auf den Totenkopf in seiner Hand. Grothgar ist ein Conférencier aus einer Halbwelt, ein Varieté-Künstler, ein Zauberer, ein Zirkusdirektor. Und ein Mephisto, mit Gründgens-Kopf: „Glauben Sie! Aber nicht an Gott, sondern an sich selbst“, fordert er die Zuschauer auf. Pommerat zeigt, wie haltlos die Menschen sind, wenn die Strukturen von Glaube oder Hierarchie fehlen - und wie brüchig diese Strukturen dort sind, wo sie existieren oder existierten.

Hans-Ulrich Becker hat die vielen verschiedenen Kurz-Szenen elegant arrangiert. Dazu trägt auch das sinnfällige abstrakte Bühnenbild von Alexander Müller-Elmau bei: Schwarz-graue Quader werden auf der Drehbühne kreisförmig (!) gegeneinander verschoben und formieren sich zu immer neuen Bildern. Großartig wie so oft sind die Düsseldorfer Schauspieler, die samt und sonders mehrere Rollen übernehmen müssen. Andreas Grothgar empfiehlt sich nachdrücklich für einen Soloabend als Rockstar: Wenn er Bob Dylan oder Metallica intoniert, wird das Düsseldorfer Schauspielhaus zum Konzertsaal. Für die deutschsprachige Erstaufführung hat Hans-Ulrich Becker mehr oder weniger den kompletten Pommerat-Text in Szene gesetzt. Künftigen Inszenierungen wäre zu raten, den Text ein wenig zu kürzen, vielleicht auch auf die eine oder andere Geschichte zu verzichten, denn insbesondere nach der Pause schleichen sich in Düsseldorf Längen ein. Doch das ist Nörgeln auf hohem Niveau - die Entdeckung von Joël Pommerat für den nordrhein-westfälischen Theaterzuschauer ist auf ganzer Linie gelungen.

 

P.S.: Bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen wird erstmals in Deutschland das aktuelle Erfolgsstück von Joël Pommerat gezeigt: Oliver Reese inszeniert „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“. theater:pur wird berichten.