Der Tod ist sexy und ein Rockstar
Hugo von Hofmannsthal hat seinem Jedermann ein Vorwort vorangestellt. Er weist darin auf die Rezeptionsgeschichte des alten Volksmärchens hin, auf dem sein Stück basiert, auf die Bearbeitungen des Stoffes durch Engländer, Niederländer und Deutsche, und er begründet seinen erneuten Versuch einer Aufzeichnung des Märchens. „Vielleicht geschieht es zum letztenmal, vielleicht muss es später durch den Zugehörigen einer künftigen Zeit noch einmal geschehen“, schließt Hofmannsthal.
Oh, er war klug und weise. Weiser als es lange Jahre die Salzburger Festspiele waren, die das Stück seit dem Jahre 1920 – mit zwei kurzen Unterbrechungen unter anderem während der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs – Jahr für Jahr auf dem Salzburger Domplatz aufführen. Und zwar mindestens bis zum Jahre 2001 stets eng angelehnt an die Konzeption der Salzburger Erstaufführung durch Max Reinhardt. Das wurde nicht nur irgendwann arg folkloristisch, sondern zog künstlerisches Fremdschämen bei anspruchsvollen Festspiel-Besuchern nach sich. Ob die verschiedenen Aktualisierungsversuche seit dem Jahre 2002 diesbezüglich Abhilfe geschaffen haben, mag jeder für sich entscheiden – Jedermann auf dem Domplatz dürfte nach wie vor eher Tourismusförderung sein als eine seriöse Kunstanstrengung. Vor diesem Hintergrund erhält das Projekt von Bastian Kraft und Philipp Hochmair, das bei den Salzburger Festspielen 2013 einen Kontrast setzen wollte zur Domplatz-Folklore, einen besonderen Reiz. Kraft hat aus einem angestaubten Theaterstück eine avantgardistische Performance gemacht.
Zumindest ästhetisch rücken Kraft und Hochmair Hofmannsthals „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ an die Gegenwart heran: mit flimmernden, unruhigen Live-Videos, mit viel Technik, Pop und Rock’n Roll. Und mit einer gigantischen Musikerin: Simonne Jones. „Der schönste Alien der Musikwelt“, titelte BILD vor einigen Jahren. Für das Außerirdische ist das (nicht nur künstlerische) Multi-Talent auch in Bastian Krafts Inszenierung zuständig: Jones spielt den Tod. Im goldenen Paillettenkleid sitzt sie am Klavier, tänzelt sie über die Bühne: „Dance, dance, dance with me …“ – une danse macabre als wunderschöne Rockballade. Man wundert sich, dass Jedermann sich gegen diese verführerische Sensenfrau noch wehrt.
Von Beginn an ist Simonne Jones die Anchor Woman dieser Aufführung. Da ist sie noch nicht der Tod, sondern „nur“ die Musikerin. Wie eine fetzige Versuchung kommt sie daher: schwarze Stiefel, enge schwarz-goldene Leggings, tiefes Dekolleté. Und schon wummert es los: „We are young, young, young…“. „Kaum an die vierzig Jahr“ ist Jedermann, aber was er noch nicht ahnt: Seine Uhr könnte bald abgelaufen sein. Stets haben wir sie im Blick: groß auf der Bühnenrückwand oder etwas kleiner halblinks wird auf einer digitalen Zeitleiste Duisburger Echtzeit angezeigt. Später, nachdem der Tod Jedermann eine Frist von einer Stunde eingeräumt hat, um einen Freund und Fürsprecher zu finden, mit dem er vor Gottes Gericht treten kann, werden viele Digitalanzeigen als Videoprojektion übereinander geblendet, die Anzeige rast und verschwimmt wie Herz und Verstand des panischen Jedermann. Nur der Tod blickt ab und an ruhig prüfend auf die Echtzeit auf der Leiste.
Philipp Hochmair, der diesen Abend initiiert und maßgeblich mitgestaltet hat, spielt den Jedermann, aber auch – mit Ausnahme vom „Tod“ - alle anderen Figuren des Stücks. In schwarzer Samtjacke über nacktem Oberkörper, mit einem schwarzen und einem silbernen Kreuz an dicken Silberkettchen um den Hals gibt auch er den Rockstar. Das passt zu diesem stets ein wenig narzisstisch wirkenden Schauspieler, der keinerlei Angst vor der Selbstüberforderung hat. Die vielen Rollen erfordern eine ungeheure Variabilität – nicht immer ist Hochmair dieser Anforderung gewachsen, denn letztlich spielt Hochmair zu oft Hochmair. Das Schaffen von Rhythmuswechseln, die Strukturierung der Aufführung in ruhigere und aufgekratztere Momente gelingt der Musikerin erheblich besser als dem Schauspieler. Da das Inszenierungskonzept durchaus mitreißend ist, wünscht man sich bisweilen, dass Kraft und Hochmair es nicht nur mit einem Solisten, sondern mit drei oder vier Schauspielern umgesetzt hätten. Doch hat die Beschränkung auf einen einzigen Schauspieler an anderer Stelle auch eine enorme Phantasie freigesetzt, die zu schönen Bildern führt: Großartig zum Beispiel der Auftritt der (schon bei Hofmannsthal personifizierten) „guten Werke“ Jedermanns. Sie waren bekanntlich nicht allzu zahlreich, und so sitzt eine winzige filmische Miniatur Philipp Hochmairs in einem durchsichtigen Kasten und spricht mit dem über ihm stehenden Jedermann in Originalgröße. Als Mammon trägt Hochmair mehr als körperlanges zotteliges Goldhaar, so wie Gold neben Schwarz überhaupt die dominierende Farbe dieser Aufführung ist und Gier die entscheidende Antriebsfeder für Jedermanns Handeln ist. Benötigt Hochmair doch einmal einen Counterpart bei seiner Solo-Performance, so redet er mit dem Skelett, das er von Beginn an mit sich herumschleppt: So wird das Gerippe kurzerhand zu Jedermanns Mutter umfunktioniert. Mit einem Tuch um Rippen und Schultern sowie einer Videokamera in den Augenhöhlen wird die alte Dame, die schon mit einem Fuß im Grab steht, zu einem ironischen Kommentar des Horror-Genres.
Viel Ironie steckt auch in dem demonstrativ ausgestellten Kontrast zwischen altertümlicher Handlung und Sprache einerseits und der modernen Interpretation andererseits. Tümelnd geradezu wirkt Hofmannsthals Regieanweisung „Sie setzt ihm einen Blumenkranz auf“, die auf dem digitalen Laufband auf der Bühne erscheint. Simonne Jones rockt dazu „I wanna be your girl“ und schießt mit der E-Gitarre goldenes Konfetti auf den reichen Jedermann, der dann schwupps einen schweren Trinkpokal im Arm hat. Peinlich wirkt das alles nicht, flach auch nicht – es hat einfach nur Schwung und Witz. Hochmair nutzt nahezu ausschließlich Hofmannsthals Original-Text, auch wenn dieser stark eingekürzt wurde. Respektlosigkeit vor dem Text und der Handlung kann man Kraft und Hochmair kaum nachsagen, allerdings fällt die Konzentration auf den Text aufgrund der Überlagerung durch die Musik und der ständigen Rollenwechsel des einzigen Darstellers manchmal schwer. Da aber Hochmair das Stück durch Betonung der Rhythmik und der Reime zur Sprechoper macht, bekommt auch der sprachliche Teil dieser hochmusikalischen Aufführung suggestive Kraft.