Übrigens …

Hiob

In Bonn, in Hannover oder Köln: „Hiob“ auf der Bühne

Joseph Roths Roman über den frommen russischen Juden Mendel Singer, der wie der biblische Hiob nach einem Leben voller Schicksalsschläge und Entbehrungen Gott verflucht und dann doch ein Wunder erleben wird, ist Pflichtlektüre im NRW-Zentralabitur. Drum wird die Roman-Dramatisierung von Koen Tachelet rauf und runter gespielt an den Bühnen unseres Landes. Allein im Rheinland haben in diesen Wochen Inszenierungen am Schauspiel Köln, am Freien Werkstatt Theater Köln und am Theater Bonn Premiere; die zwei Jahre alte Inszenierung vom Rheinischen Landestheater Neuss  tingelt noch durch die Lande, und für das Akzente Theatertreffen in Duisburg wurde Christopher Rüpings Inszenierung vom Schauspiel Hannover eingeladen. Die Schüler haben also die Qual der Wahl, und der verantwortungsbewusste Rezensent, der die Inszenierungen vergleichen möchte, läuft Gefahr, dass ihm der Stoff an den Ohren herauskommt.

 Kommt er aber nicht. Am Schauspiel Köln bietet die Inszenierung von Rafael Sanchez, die Christoph Zimmermann an dieser Stelle bereits besprochen hat , großes Schauspieler-Theater bei weitgehender interpretatorischer Zurückhaltung: Auf einem zunächst etwas langweilig anmutenden, aber plötzlich ein faszinierendes Innenleben offenbarenden Pfahlbau-Podest wird mit großem Respekt für den Text der Inhalt des Romans erzählt. Ganz unverfälscht werden die angehenden Abiturienten im Publikum den Stoff kennenlernen. Bruno Cathomas als Mendel Singer ist das unumstrittene Zentrum der Inszenierung. Er, der häufig so extrovertiert (um nicht zu sagen: exaltiert) agiert, gibt den Familienpatriarchen fast demütig, als sorgenden Vater, gottesfürchtig, bescheiden und liebend. Scheu entdeckt und praktiziert er seine Liebe zu dem behinderten, bei Niklas Kohrt ein wenig effeminiert wirkenden Sohn Menuchim. Erst nach dem Umzug nach Amerika und dem Verlust seiner ganzen Familie bricht die ganze Wut, die in dem von Gott so sehr gestraften Mendel steckt.

Ganz anders interpretiert Wolfgang Rüter bei Sandra Strunz am Theater Bonn diese Rolle. Bei ihm hat die Frömmigkeit des Juden Mendel Singer von Beginn an einen Zug ins Fundamentalistische. Seine Gottesfurcht lässt ihn hartherzig erscheinen; anders als Cathomas in Köln glaubt er, sie über die Liebe zu seiner Familie stellen zu müssen. Ist auch Rüters Mendel ein sorgender Vater? Ohne Zweifel, aber er ist tief verwurzelt in einem voraufklärerisch anmutenden Glauben, der da heißt: Separiere dich von den Ungläubigen. Krankenhausbehandlung für den schwer behinderten Menuchim? Kommt gar nicht in Frage, denn im Hospital würde sein Sohn ja mit nichtjüdischen Kindern aufwachsen.  Auch der moderner denkende Rabbi kann da nicht vermitteln: Niemand darf zwischen Gott und Mendel stehen. Im ersten, in Russland spielenden Teil der Bonner Aufführung zeigt Mendel Gefühle nur, wenn er allein ist: unter vier Augen mit Menuchim.

Der ist es, der in Bonn das eindeutige Zentrum der Aufführung markiert. Ein wenig plagt einen das schlechte Gewissen, wenn man als nur gelegentlicher Besucher des Schauspiels Bonn ausgerechnet zur Premiere des „Hiob“ anreist: Der schwerstbehinderte Epileptiker Menuchim wird von Samuel Koch gespielt, dem seit seinem Unfall bei „Wetten, dass...?“ im Dezember 2010 querschnittsgelähmten Wettkandidaten von Thomas Gottschalk. Ist es Voyeurismus, wenn man dessen ersten nordrhein-westfälischen Auftritt nach Abschluss seiner Schauspiel-Ausbildung begaffen will? - Das schlechte Gewissen ist schnell verflogen: Koch beeindruckt durch eine überraschend starke Präsenz, und die Inszenierung von Sandra Strunz nimmt durch eine klare Strukturierung und Schwerpunktsetzung gefangen. Gestochen scharf arbeitet sie zwei wesentliche Aspekte des Romans heraus und fokussiert ihren Blick dabei auf jeweils eine, durchaus heute noch relevante Fragestellung. Zum einen beleuchtet sie die Zwangslage einer Familie, der sich eine unverhoffte Chance zum Aufstieg aus Armut und Monotonie bietet, die dafür aber das schwächste Glied der Familie aufgeben muss. Zum anderen macht sie deutlich, dass die Bedingungslosigkeit von Mendels Glauben zwangsläufig bei einer Häufung von Schicksalsschlägen zu religiösen Zweifeln führt. In Köln bleibt die Inszenierung näher am biblischen Gleichnis, das Joseph Roth schon durch die Titelgebung seines Romans bezweckte, in Bonn wird dieses Gleichnis trotz großer Texttreue hinterfragt.

Sehr pointiert, wenn auch ohne zu werten, arbeitet die Inszenierung von Sandra Strunz heraus, dass hier eine Familie ist, die ihren Zusammenhalt und ihre Verantwortung füreinander betont, aber ihren behinderten Sohn einem ungewissen Schicksal überlässt und ihren ältesten Sohn Jonas, der zum Militär eingezogen wurde, über ihre Auswanderung nach Amerika zu informieren vergisst. „Das also ist die tiefgläubige Familie?“, fragen wir uns unwillkürlich. Und sehen, wie die Existenz eines Problemkindes eine ganze Familie zerstören kann - auch das erscheint sehr heutig. Doch wir erleben auch die hingebungsvolle Liebe Deborahs zu ihrem Sohn und das Leiden Mendels an der Trennung von Menuchim. Immer wieder ziehen wir in Bonn Parallelen zu unserer heutigen Welt. Strunz‘ Inszenierung denkt Themen wie Inklusion, Integration und Assimilation mit: Wir erleben Mendels langen, vergeblichen Kampf um Integration im neuen Heimatland und seine Überforderung, die schnelle Assimilation seiner Tochter Mirjam zu verstehen, und wir erleben den lange Zeit aussichtslos erscheinenden Kampf eines Kindes, das nicht sprechen und nicht laufen kann, um seinen Platz im Leben.  

Die hochsensible Kölner Inszenierung gleicht einem langen ruhigen Fluss, während die Bonner Aufführung konfrontativer wirkt. Strunz und ihre Dramaturgin Nicola Bramkamp haben herzhaft zum Rotstift gegriffen, um eine spannende Strichfassung aus Koen Tachelets Roman-Dramatisierung zu erarbeiten und Verständnis nicht nur über die Sprache, sondern auch über stilisierte Bilder zu schaffen. Sie arbeiten nahezu durchgängig mit Musik und Choreografie - was angesichts von Menuchims späterer wundersamer Verwandlung in einen weltberühmten Komponisten und Dirigenten in besonderem Maße sinnfällig ist. Manche Rezensenten bemängelten, die Aufführung sei mit der Besetzung der Rolle des behinderten Menuchim durch einen behinderten Schauspieler in eine Falle gegangen. Doch genau dieser Gefahr ist die Inszenierung entronnen, was in erster Linie auf das intelligente Spiel von Samuel Koch zurückzuführen ist. Das einzige Wort, das Menuchim sprechen kann, ist „Mama“ - doch dieses Wort genügt, um immer wieder das ganze Gefühlsleben von Kochs Figur offenzulegen. Mehr noch: Koch zeigt, dass dieser Menuchim erheblich mehr versteht als seine ganze Familie ahnt. Wenn Gläser oder Glocken erklingen, erwacht er aus seiner Apathie; während Mendels Versuche, ihm das Sprechen beizubringen, scheitern, vermag er perfekt das Kreischen seiner Schwester Mirjam nachzumachen. Und wenn er, kaum dass sich die Gelegenheit zur Auswanderung der Familie nach Amerika abzeichnet, rhythmisch auf die Ränder der kegelförmigen Stahlkonstruktion pocht, die Bühnenbildnerin Sabine Kohlstedt über die Szene gespannt hat, dann wirkt dies, als finge Menuchim den Takt der großen weiten Welt in einer Satellitenschüssel ein. So zeichnet sich bereits früh das musikalische Talent des Menuchim ab - und wenn Koch in der Diskussion um die Auswanderung eine kleine unverständliche stammelnde Rede hält, nimmt dies niemand aus der Familie wahr, wir aber ahnen: Hier handelt es sich um erste Anzeichen einer Besserung seiner Krankheit.

Einmal nur überstrahlt das wahre Schicksal des Menuchim-Darstellers die Rezeption seiner Worte, und das ist ungeheuer berührend: Noch ist er inkognito im Gespräch mit seinem Vater, als er sagt: „Menuchim lebt. Es geht ihm sogar sehr gut. Er ist gesund geworden.“ Da sind wir, zugegebenermaßen, emotional ein wenig überwältigt und denken an den 4. Dezember 2010. Aber ist das schlimm? Menuchim nimmt seinen Vater zuletzt mit in das oberste Stockwerk seines Hotels und zeigt ihm die Schönheit Amerikas. Demonstriert ihm, wie lebenswert unsere Welt ist. Gerade vor dem Hintergrund des persönlichen Schicksals des Protagonisten ist das eine hammerstarke Aussage zum Thema Inklusion.