Ja so war’ns, die alten Rittersleut‘
Benutzt man Wagners Bühnenweihfestspiel als Ausgang für eine Betrachtung des Parzival-Mythos, springen gravierende erzählerisch-interpretatorische Veränderungen gegenüber dem Versroman des Wolfram von Eschenbach aus dem 13.Jahrhunderte ins Auge. Da wäre u.a. Wagners schicksalsträchtige Konturierung der Kundry/Cundrie-Figur, weiterhin die stark gedehnte Schilderung des Amfortas/Anfortas-Schicksals incl. bühnenwirksamer Gegenspielerfigur (Klingsor) sowie das pathetische Erlösungsfinale. Die etwas geglättete Titelfigur könnte man freilich auf Wagners Siegfried zurückprojizieren. Dieser so oft als bloßer Strahlemann porträtierte Held hat viel von einem bedenkenlosen Berserker ohne moralische Skrupel. Darin gleicht ihm Parsifal/Parzival, freilich nur in einem bedingt schuldhaften Sinne. Denn seine Mutter Herzeleide/Herzeloyde erzieht ihn aus Angst vor einem gefahrvollen Ritterleben fernab der Welt mit ihrer brutalen Zivilisation. Falsche Hoffnung. Eines Tages begegnet der Knabe einigen im Walde verirrten Rittern, die er naiv als gottähnliche Wesen ansieht. Sein heißes Blut lässt ihn der faszinierenden Männerschar folgen. Die Mutter kann ihm gerade noch einige gute Ratschläge mit auf den Weg geben, dann übermannt sie der Schmerz und sie stirbt gebrochenen Herzens.
Parzival befolgt die „goldenen Regeln“ artig, in seiner Tumbheit mitunter sogar unehrenhaft. Sein Ritterherz treibt ihn fort und fort, von Abenteuer zu Abenteuer. Nirgends vermag er sesshaft zu werden, auch bei keiner Frau, trotz Liebe und Kinderzeugung. Sein Leben verläuft körperhaft impulsiv, ohne Reflektion. Bei der Begegnung mit dem Gralskönig Anfortas unterlässt er es, sich mitleidend nach dessen Schicksal zu erkundigen (eine schmerzhafte Wunde, entstanden durch die Missachtung des Keuschheitsgebotes).
In Wagners Musikdrama ist Parzivals ungezügelte Sexualität zurückgedrängt, er wird von Kundry, die bei Wolfram von Eschenbach als Cundrie nur einen zwar markanten, dennoch peripheren Auftritt hat, sogar regelrecht verführt. Der ihm aufgedrängte Kuss lässt ihn die Amfortas-Situation in all ihrer Tiefe erkennen („Die Wunde“). Am Schluss der Oper ist er ein Geläuterter, sogar fähig, das heilige Amt des Gralsführers zu übernehmen Bei Wolfram von Eschenbach keimt diese Erkenntnis einstweilen nur, wenn auch stark. Auch bedarf es hierzu der Begegnung mit seinem ihm unbekannten Bruder Fairefis. In ihm spiegelt sich sein eigenes, schuldlos-schuldhaftes Ich. Hier inszeniert Stefan Bachmann eine unter die Haut gehende Gefühlsszene, die von Marek Harloff (Parzival) und Stefko Hanushevsky (Fairefis) intensiv ausgefüllt wird.
Ansonsten bietet die Aufführung großes Erzähl“kino“ ohne inszenatorische Manierismen, ohne Ego-Anbiederungen. Bei der bühnenmäßigen Aufbereitung des Originaltextes waren textdramaturgische Eingriffe freilich notwendig. Die verschlungenen Handlungsfäden werden nicht nur von „La Histoire“ erläutert. Fast alle Darsteller treten immer wieder aus ihren Mehrfachrollen heraus, um Begebenheiten verdeutlichend zu referieren. Das führt automatisch zu Momenten des Distanzierens, was Bachmann auch für belebend ironische Akzentsetzungen nutzt. Der alte Eremit Trevizent, welcher sich während seiner Mahnungen an Parzival ein Gemüsesüppchen kocht, ist zudem ein schauspielerisches Kabinettstück von Jörg Ratjen, welcher auch als leidend verkrümmter Anfortas nachhaltig überzeugt. Ähnliches gilt für Gerrit Jansen, der neben einer würdigen „Histoire“ auch als skurriler Gournemans die Szene beherrscht. Der Auftritt Cundries wird zu einer wilden Emanzen-Szene (stark: Melanie Kretschmann), die schon bei Wolfram von Eschenbach etwas isolierte Gawan-Episode gerät zu einem koketten Schlagabtausch zwischen dem schönen Ritterfräulein Orgelleuse (Annika Schilling) und dem unglaublich körpervirtuosen Nikolaus Benda.
Bis auf eine Szene, bei welcher auf dem Boden verteilte Teelichter für heimelige Stimmung sorgen, ist Simeon Meiers Bühne nüchtern: rechteckiges Spielpodest, wo von einem „Sargdeckel“ die Sicht auf das Geschehen manchmal nur bis zur Gürtellinie der Darsteller freigegeben wird. Die Wandlung Parzivals vom affenartig sich fortbewegenden Waldkind bis zu einem Schmerzensmann macht Marek Harloff glaubhaft. Die pausenlosen zweieinviertel Stunden werden einem nicht lang.